Die Teufelssonate
lebte in einer Höhle unter der Erde, er verschenkte sein ganzes Geld, und auf der Straße schauten die Leute ihn mit scheelen Blicken an. Aber hier war ein Mädchen, bei dem er sich wohlfühlte. Sie rief keine dunklen Emotionen in ihm wach. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich zu einer Frau hingezogen, die eine frische, positive Ausstrahlung hatte. Warum sollte er sich weiter mit seiner Vergangenheit herumquälen? Es war vielleicht ein unpassender Gedanke, aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Er wollte leben.
Die Fahrt zu ihrer Studentenbude war schon eine Offenbarung für sich. Sie wartete in einer Seitenstraße auf ihn, es war besser, wenn sie nicht zusammen gesehen wurden. Sie taten nichts Verbotenes. Sie war zweiundzwanzig, und es war noch nichts passiert. Trotzdem. Natasja hatte ihr Fahrrad dabei. Er fragte, ob er fahren dürfe. Sie lachte und übergab ihm den Lenker. Zu seinem sechsten Geburtstag hatte Notovich ein Rad bekommen, doch das hatte die meiste Zeit im Schuppen gestanden. Eine Nachbarin hatte ihn jeden Tag zum Unterricht ans andere Ende der Stadt gebracht, und wenn sie zurückgekommen waren, war es in der Regel zu spät gewesen, um draußen zu spielen. Später hatte er nie mehr ein Fahrrad gehabt.
Anfangs ging es noch recht unsicher. Als Natasja auf den Gepäckträger sprang, verlor er die Kontrolle über den Lenker, so daß er beinahe eine kleine Frau mit zwei riesigen Einkaufstaschen über den Haufen gefahren hätte. Doch beim zweiten Versuch gelang es ihm, das Rad in Schwung zu bringen.
Natasja winkte zwei Freundinnen zu. Die Mädchen stießen einander an und pfiffen Notovich bewundernd hinterher. Er fühlte sich auf einmal unbehaglich. Was, wenn Van der Wal und Steenakker ihn so sahen? Er war immer noch ein Verdächtiger in einem Vermißtenfall. Du solltest wieder nach vorn schauen , hatte Nicole gesagt. Das ist jetzt der Moment. Aber verdiente er das überhaupt?
Als sie um die Kurve bogen, faßte Natasja ihn fest um die Taille und preßte sich an seinen Rücken. Wärme durchströmte Notovich. Van der Wal und Steenakker konnten ihm den Buckel runterrutschen. Das hier fühlte sich gut an. Es war sein Leben. Die Sonne schien ihm auf die Haut, und der Wind in seinem Gesicht tat ihm wohl. Die Stadt zog an ihm vorbei wie ein Film voller pulsierender Aktivität. Sie kamen an einem Italiener vorbei, und er sog den Geruch von frischen Pizzastangen ein. Natasja umschloß ihn noch fester. Er genoß es. Was, wenn Linda ihn jetzt sehen würde? Er lächelte über diesen Gedanken.
Ihr Zimmer war mit Büchern und großen Pflanzen vollgestellt. Es gab eine winzige Spüle, einen Tisch mit zwei Stühlen auf einer Schilfmatte und eine Matratze auf dem Boden. Sie erkundigte sich, ob er etwas trinken wolle, und zog ihre Jacke aus. Unschlüssig standen sie einander gegenüber. Notovichs Mund wurde trocken, und er fragte sich, ob man die klapprige Tür überhaupt abschließen konnte. Natasja beschloß, die Formalitäten zu überspringen, und schon lagen sie auf der Einpersonenmatratze und streiften sich gegenseitig die Kleider vom Leib. Während er mit der Nase durch ihre Achselhöhle fuhr, dachte er an die Jahre, die er vergeudet hatte. Vielleicht war es noch nicht zu spät, diese Zeit wieder einzuholen.
Natasja übernahm die Initiative mit einer Geschicklichkeit, vor der er zuerst kichernd zurückzuckte. Danach drückte er sie auf die Matratze und erkundete seinerseits ihren Körper. Sie ließ ihn gewähren und zog ihn dann an sich, so daß sie wieder aufeinanderlagen. Sanft ergriff sie ihn, um ihn hineinzuführen. Doch plötzlich fühlte er Sennas Anwesenheit, so nah und intensiv, daß alle Kraft aus ihm wich.
Senna.
Senna hatte es sofort gespürt, in jener Nacht in einer farblosen Stadt irgendwo in Nordfrankreich: daß er offenbar eine Entscheidung für sie beide getroffen hatte. Er war unter der Decke zu ihr gekrochen, mit einer Zielstrebigkeit, die sie zurückschrecken ließ.
»Nein, Mischa. Bitte nicht. Du machst alles kaputt.«
»Keine Angst, Senna. Was andere Männer dir angetan haben … So muß es nicht immer laufen.«
17
E s tat weh, an jene Nacht zu denken. Damals schob er die Schuld erst noch auf den Erfolg; er war einfach nicht er selbst. Und dann diese verdammten Reisen, rein ins Hotel, raus aus dem Hotel. Die ersten drei Konzerte nach seinem französischen Debüt fanden in kleineren Sälen in Paris statt. Danach reisten sie kreuz und quer durch Frankreich, Belgien und die
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