Die Therapeutin - Grebe, C: Therapeutin - Någon sorts frid
zögernde Schritte zum Absatz hin. Dort, auf dem kalten Fels, auf dem sich gelbgrüne Landkartenflechten unter meinen Füßen ausbreiten, senkt sich endlich Frieden über mich. Auf der Oberfläche des trüben Wassers schwimmen gelbe Blätter. Nach einigen Sekunden des Zögerns tauche ich ein und schwimme mit regelmäßigen Zügen auf meine kleine wacklige schwarze Brücke zu.
Irgendwie weiß ich, dass das mein letztes Bad in der Bucht für dieses Jahr sein wird.
Datum: 15. November
Uhrzeit: 16.00
Ort: grünes Zimmer, Praxis
Patientin: Charlotte Mimer
»Danke, es geht mir heute besser, Siri, mein Auftritt beim letzten Mal ist mir schrecklich peinlich. Ich weiß nicht, was … was mit mir los war. Ich bin in letzter Zeit so unglaublich … labil.«
Charlotte lächelt mich vorsichtig an, kein fröhliches Lächeln, sondern eine entschuldigende, sich selbst zurücknehmende Geste. Obwohl ihr das Verhalten bei der letzten Sitzung offensichtlich peinlich ist, sieht es aus, als ginge es ihr heute besser. Sie trägt denselben Trainingsanzug wie beim letzten Mal, ist aber ein ganz anderer Mensch: Die Haare glänzen frisch gewaschen, sie sitzt kerzengerade da, die Beine sittsam übereinandergeschlagen, die Hände um das Knie gefaltet.
Die alte Charlotte ist wieder zurück.
»Denken Sie nicht weiter daran. Hier drinnen müssen Sie nicht die Kontrolle bewahren. Hier drinnen dürfen Sie sie auch mal verlieren. Man könnte sagen, dass Sie sich Ihrem Kontrollverlust und all den schwierigen Gefühlen, die ihm folgen, stellen sollten. Verstehen Sie?«
»Mhm.«
Charlotte windet sich ein wenig auf ihrem Sessel, sagt aber nichts.
»Versuchen Sie, es doch einmal so zu sehen: Kontrolle ist zentral für Sie, Sie tun alles, um die Kontrolle zu behalten. In allen Situationen.«
»Die Kontrolle über das Essen?«
»Ja, auch die Kontrolle über das Essen, aber im Grunde genommen sind es doch Ihre eigenen Gefühle, die Sie zu kontrollieren versuchen. Indem Sie nicht essen, indem Sie wie wahnsinnig trainieren, indem Sie immer gute Laune zeigen. Und so weiter. Ich finde es ein gesundes Zeichen, dass Sie Ihrem Chef die Meinung gesagt haben.«
Charlotte lacht ein heiseres, freudloses Lachen und mustert ihre gepflegten, manikürten Fingernägel.
»Ja, das war wirklich effektiv. Jetzt war ich auch auf dem Arbeitsamt. Mit all diesen Sozialfällen. Das war eine … hm … eine neue Erfahrung.«
»Empfinden Sie es so? Dass derjenige, der arbeitslos ist, ein Sozialfall ist?«
Charlotte windet sich, sie ist sich durchaus bewusst, dass sie sich politisch absolut inkorrekt ausgedrückt hat. Die bekannte Röte breitet sich auf ihrem Hals aus.
»Na, ich weiß nicht. Vielleicht. Auf jeden Fall ein Teil von denen.«
»Charlotte, ich bewerte nicht das, was Sie sagen, ich versuche nur zu verstehen, warum es so schwierig für Sie ist, sich einzugestehen, dass Sie eine von denen sind, die zum Arbeitsamt gehen müssen.«
»Weil es für mich bedeutet, dass ich versagt habe, zumindest was meine Karriere betrifft.«
»Und was ergibt sich daraus, wenn Sie tatsächlich versagt haben, warum ist das so schrecklich?«
»Ich weiß nicht.«
»Denken Sie einmal darüber nach. Was würden Sie denken,
wenn Ihre Freunde zum Arbeitsamt gehen müssten? Würden Sie dann glauben, dass sie versagt haben?«
»Natürlich nicht!«, antwortet Charlotte blitzschnell und erwidert meinen Blick.
»Dann gelten also für Sie selbst … strengere Regeln als für die anderen?«
»Ich denke schon …«
Ich versuche das zusammenzufassen, was Charlotte berichtet hat, und meine Sicht der Situation klarzulegen. Ihre Angst zu versagen ist typisch für viele, die unter einem starken Druck stehen.
»Dann könnten wir also sagen, dass Sie eine Strategie entwickelt haben, um das Gefühl zu vermeiden, einen Misserfolg erlitten zu haben, und diese Strategie beinhaltet, dass Sie die Kontrolle behalten – in allen Situationen?«
»Ich denke schon, aber würden Sie das nicht auch wollen?«, flüstert Charlotte, die jetzt aschgrau im Gesicht ist.
»Ob ich die Kontrolle behalten will?«
Charlotte nickt schweigend und sieht mich ernst an, ihre Augen wie große, dunkle Glasmurmeln.
»Nun ja, es ist klar, dass ein gewisses Maß an Kontrolle notwendig und wünschenswert ist, aber es ist… ein Mittel. Kein Ziel an sich.«
Charlotte scheint nicht zuzuhören, sie sieht mich nicht mehr an. Stattdessen ist ihr Blick auf die Lithographie gerichtet, die über meinem kleinen Tisch
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