Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
bewegte, während er damit beschäftigt war, ihre Aussage und die Erinnerung an ihre Tierquälerei zu verarbeiten.
»Wollen wir nicht reingehen?«, wiederholte sie. »Bei dem Unwetter kommt er sicher von alleine wieder.«
Anna deutete mit dem Kopf in Richtung Strandhaus und griff nach seiner Hand. Viktor zog sie etwas zu hastig zurück und nickte.
»Ja. Vielleicht haben Sie Recht.«
Er setzte sich langsam in Bewegung und ging voran.
Wie konnte es sein, dass sie den großen Hund nicht gesehen hatte? Warum log sie auch in diesem Fall? Hatte sie nicht nur mit Josys, sondern auch mit Sindbads Verschwinden etwas zu tun?
Über all den Fragen, die in seinem Kopf umherschwirrten, hatte Viktor die erste Regel vergessen, die ihn sein Mentor und Freund, Professor van Druisen, gelehrt hatte: »Höre zu. Ziehe keine voreiligen Schlüsse, sondern schenke deinen Patienten die größtmögliche Aufmerksamkeit.«
Stattdessen erschöpfte Larenz wichtige Kraftreserven damit, die quälende Gewissheit zu unterdrücken, die sich ihren Weg aus seinem Unterbewusstsein nach oben kämpfte. Die Wahrheit war bereits deutlich sichtbar. Sie lag verzweifelt vor ihm, wie ein Ertrinkender, den nur eine dünne Eisschicht von den helfenden Händen seiner Retter trennt. Doch Viktor Larenz war nicht bereit, sie zu durchstoßen.
Noch nicht.
19. Kapitel
W ir flohen.«
Die Unterhaltung war schleppend in Gang gekommen. Viktor musste sich zwingen, seine Gedanken an Sindbad zu verdrängen, und hatte Anna in den ersten Minuten gar nicht zugehört. Zum Glück hatte sie damit begonnen, das letzte Gespräch noch einmal zusammenzufassen: Dass sie mit Charlotte zu dem Haus im Wald gefahren war, dort einbrechen musste, während Charlotte sich weigerte, den Bungalow zu betreten. Und dass sie einen Mann in dem Zimmer am Ende des Gangs gehört hatte.
»Wovor rannten Sie dann weg?«, nahm Viktor den Faden wieder auf.
»Damals wusste ich es noch nicht. Ich spürte nur, dass das, was in dem Zimmer auf mich gewartet hatte, jetzt hinter uns her war. Also rannte ich mit Charlotte an der Hand den verschneiten Waldweg zum Auto zurück. Wir drehten uns nicht um. Aus Angst. Aber auch aus Vorsicht, weil wir auf dem glatten Pfad nicht ausrutschen wollten.«
»Noch einmal: Wer war im Haus? Wer verfolgte Sie?«
»Ich bin mir bis heute nicht sicher. Ich fragte Charlotte, als wir schließlich wieder im Wagen saßen und so schnell wie möglich mit verriegelten Türen den Weg nach Berlin zurückfuhren. Doch die Kleine sprach wieder nur in Rätseln.«
»Was meinen Sie mit Rätseln?«
»Sie sagte Sätze wie: ›Ich kann dir keine Antworten geben, Anna. Ich kann dich nur zu den Zeichen führen. Du musst ihre Bedeutung selbst herausfinden. Du schreibst die Geschichte. Nicht ich!‹«
Viktor musste sich eingestehen, dass die Erzählungen von Anna immer irrealer wurden, was angesichts ihrer Krankheit nur allzu verständlich war. Allerdings hoffte er, dass ihre Fantasien wenigstens einen kleinen Bezug zur Wirklichkeit hatten. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie pathologisch dabei sein eigenes Verhalten war.
»Wo fuhren Sie dann hin?«
»Zu dem nächsten Zeichen, das mir Charlotte zum Deuten gab. Sie sagte: ›Eben habe ich dir gezeigt, wo alles anfing.‹«
»Das Haus im Wald?«, fragte Larenz.
»Ja.«
»Und dann?«
»Dann sagte Charlotte etwas, was ich in meinem Leben nie vergessen werde.«
Anna presste die Lippen zusammen und imitierte die flüsternde Stimme eines kleinen Mädchens: »›Ich werde dir jetzt zeigen, wo meine Krankheit wohnt.‹«
»Wo die Krankheit wohnt?«, fragte Larenz.
»So hat sie sich ausgedrückt.«
Larenz fröstelte. Eigentlich hatte er gefroren, seitdem sie ins Haus zurückgekehrt waren. Doch es war noch schlimmer geworden, als Anna plötzlich ihre Stimme verstellt hatte.
»Und wo war das?«, hakte er nach. »Wo hat die Krankheit gewohnt?«
»Charlotte leitete mich über die Glienicker Brücke den Weg nach Berlin zurück. Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, wie wir zu diesem riesigen Grundstück gefahren sind. So gut kenne ich mich in jener Berliner Gegend nicht aus. Außerdem wurde ich während der Fahrt abgelenkt, weil es Charlotte auf einmal so schlecht ging.«
Viktors Magen krampfte sich zusammen.
»Was hatte sie?«
»Sie bekam erst Nasenbluten, also hielt ich am Wegrand an, ich glaube, es war in Höhe eines Biergartens am Strandbad Wannsee. Sie legte sich auf die Rückbank, und kaum war das Nasenbluten weg …«
…
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