Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
setzte der Schüttelfrost ein …
»… fing sie heftig an zu zittern. Sie hatte Schüttelfrost, aber von einer so unglaublichen Intensität, dass ich eigentlich mit ihr ins Krankenhaus fahren wollte.«
Anna lachte künstlich.
»Bis mir einfiel, dass ich schlecht mit einem Geist in die Notaufnahme spazieren konnte.«
»Also haben Sie ihr nicht geholfen?«
»Doch. Erst wollte ich wirklich nicht. Ich hatte den starken Wunsch, gegen das Trugbild anzukämpfen. Aber dann wurden Charlottes Beschwerden immer heftiger. Sie zitterte und flehte mich weinend an, ihr in der Apotheke ein Medikament zu besorgen …«
… Penicillin …
»… Sie wollte ein Antibiotikum. Als ich ihr sagte, dass ich das ohne Rezept nicht bekommen würde, bekam sie ihren ersten Tobsuchtsanfall. Sie schrie mich an.«
»Sie schrie?«
»Ja, so laut es mit ihrer schwächlichen Stimme nur ging. Es war entsetzlich. Eine Mischung aus Heulen, Schluchzen und Brüllen.«
»Was sagte sie?«
»›Du hast mich erfunden. Du hast mich krank gemacht. Jetzt mach mich auch wieder gesund!‹ Und obwohl ich wusste, dass ich halluzinierte, obwohl ich ganz genau wusste, dass es Charlotte nicht gab, fuhr ich zu einer Apotheke und kaufte eine Packung Paracetamol gegen ihre Kopfschmerzen. Und ich überredete den Apotheker mit meinem ganzen Charme, mir das Penicillin ohne Rezept zu überlassen. ›Für mein krankes Kind‹, sagte ich ihm und versprach, die Verschreibung am nächsten Tag nachzureichen. In Wahrheit tat ich es natürlich für mich, da ich wusste, dass die Stimmen und Bilder in meinem Kopf erst dann verschwinden würden, wenn ich Charlottes Befehlen gefolgt wäre.«
»Was passierte dann?«
»Tatsächlich wurde es nach meinem Besuch in der Apotheke besser. Nicht für Charlotte, wohl aber für mich.«
Viktor wartete ab, bis sie von alleine weiterredete.
»Sie nahm zwei Tabletten, aber die hatten keine Wirkung. Im Gegenteil, ich würde fast sagen, Charlottes Zustand verschlechterte sich. Sie wirkte noch blasser, noch apathischer. Aber wenigstens machte sie mir keine Vorwürfe mehr und blieb still. Ich war allerdings immer noch so geschockt über ihren Anfall, dass ich nicht mehr weiß, wie wir zu diesem großen Haus am Wasser gekommen sind.«
»Bitte beschreiben Sie es mir.«
»Es war das schönste Anwesen, das ich in Berlin je gesehen habe. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas in einer Großstadt überhaupt geben kann. Das Grundstück besaß eine Ausdehnung von einigen tausend Quadratmetern, an einem Hang gelegen, mit eigenem Strand und Bootsanlegesteg. Das Haus selbst war größer als eine Villa, im klassizistischen Grundstil gebaut, aber mit Elementen der italienischen Renaissance aufgelockert. Es gab viele Erker, Türmchen und zahlreiche Verzierungen. Kein Wunder, dass Charlotte es ›das Schloss‹ nannte.«
Schwanenwerder.
Viktor war sich jetzt sicher. Die Fülle der stimmigen Einzelheiten in ihren Erzählungen konnte kein Zufall mehr sein.
»Aber weder die Lage noch der Stil war das Auffälligste an dem Anwesen«, fuhr sie fort. »Wirklich merkwürdig war, wie viele Menschen überall herumliefen. Wir hatten das Auto vor einer kleinen Brücke stehen lassen müssen, weil uns zahlreiche parkende Lieferwagen den Weg versperrten.«
»Lieferwagen?«
»Ja, größere und kleinere Transporter. Sie alle wollten …«
… auf die Insel …
»… in dieselbe Richtung wie wir und verstopften die schmale Straße. Zahlreiche Menschen liefen geschäftig hin und her. Die meisten von ihnen warteten vor der großen Zufahrt des Hauses auf dem Bürgersteig. Keiner nahm von uns Notiz, als wir näher kamen. Alle beobachteten konzentriert die schwere Eingangstür des Schlosses. Manche hatten Ferngläser, einige sogar Kameras dabei. Überall klingelten Handys, und Fotos wurden gemacht. Und zwei Männer waren sogar auf einen Alleebaum geklettert, um eine bessere Sicht auf das Anwesen zu haben. Die Krönung war ein Hubschrauber, der dröhnend über unsere Köpfe hinweg flog.«
Viktor wusste genau, wo sie gewesen sein mussten. Er wusste auch, welches Szenario Anna gerade beschrieb. Der gewaltige Pressezirkus vor seinem Haus in den ersten Tagen nach Josys Verschwinden hatte die Familie unerträglich belastet.
»Plötzlich ging ein Ruck durch die Menge, weil sich die Tür öffnete und jemand heraustrat.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Ich konnte es nicht erkennen, da das Grundstück so groß war und die Tür der Villa bestimmt achthundert Meter von meinem
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