Die Tibeterin
sie zu fangen, indem ich mich im Nebenraum splitternackt auszog und meine Kleider ausschüttelte. Tsewang sah kichernd zu, während sie Maiskörner in einem Steinmörser zerstieß. Ich kratzte mich, schlotterte, hatte Stiche am ganzen Körper. Atan war gegen Ungeziefer immun. Er fragte sich auch nicht: Ist das Wasser abgekocht? Sind die Decken sauber? Ist der Topf hygienisch? Er wanderte auf einem Seil zwischen den Welten und fiel nie herunter.
Ich war von akademischen Abstraktionen und ein bißchen Menschlichkeit geprägt. Das war nicht genug. Ich hatte viel zu lernen.
Wir verließen unsere freundlichen Gastgeber und fuhren westwärts, auf die Pässe zu. Die Straße stieg ständig an; zuerst waren die Hänge noch mit Feldern bedeckt, die wie grüne Stufen in die Täler hinabstiegen. Allmählich veränderte sich die Landschaft. Es gab weniger Rhododendronwälder, krumme Kiefern und Eichen wuchsen auf federnden Moosflächen. Tief unten schäumten Wildbäche über weiße, flachgewaschene Steine. Falken segelten in 203
der seidenblauen Luft. An manchen Stellen war die Straße noch im Bau. Arbeiter saßen am staubigen Straßenrand, klopften Steine.
Lastwagen standen herum, die Fahrer versuchten vergeblich, sie in Gang zu bringen. Von allen Seiten ertönte das wütende Hupen der Wagen, die nicht vorbeifahren konnten. Endlich erreichten wir die Paßhöhe, sahen hinunter in die jenseitigen Täler, hinter denen neue Berge emporragten: die nahen dunklen Berge mit dichten Wäldern, weiter entfernte Berge, strahlend im Licht, und endlich noch andere Berge, noch höhere, mit blauen Gletschern. Und hinter diesen Bergen lag Tibet.
Das Städtchen Namche mit seinen zwei- und dreistöckigen Häusern lag in einem halbmondförmigen Tal. Auch hier hatte man sich auf die Trekker eingestellt. Es gab verschiedene Lodgen, und zahlreiche Lädchen verkauften alles, was Bergsteiger brauchten. Auf den kargen Feldern, durch Steinmauern voneinander getrennt, wuchsen Weizen und Kartoffeln.
Atans Freund Birman Shesthra war Verwalter eines Gutes, das einem tibetischen Kloster gehörte. Ich sah vor mir einen dunkelhäutigen, lebhaften Mann, der zwar ein rauhes Leben führte, aber Vieh, Geld, vor allem jedoch seine Handlungsfreiheit besaß.
Von Gestalt war er kräftig und gedrungen, er hatte einen mächtigen Kopf und kurzgeschorenes Haar unter der schwarzen nepalischen Kappe. Er trug noch die altmodischen, selbstgewebten Baumwoll-Jodhpurs, doch er fuhr einen Traktor und besaß einen Fernsehapparat. Seine Frau Yangchen war Tibeterin, eine vollbusige Schönheit mit einem Teint wie dunkler Honig. Ihre beiden erwachsenen Kinder lebten bei Verwandten in Kathmandu. Der Sohn besuchte eine Landwirtschaftsschule, die Tochter wollte Zahnärztin werden. Wir saßen um einen kleinen Ofen aus Lehmziegeln, der Rauch zog durch eine in der Mitte angebrachte Öffnung ab.
Steinplatten schützten vor Regen und Schnee. Auf den Sitzbänken lagen schöne, bunte Steppdecken und dienten der Familie nachts als Betten. Yangchen rührte den Tee in einem großen, zylinderähnlichen Holzfaß an. Dazu wurde Tsampa, geröstetes Gerstenmehl, gereicht.
Wir mischten es in den Tee, legten ein Stück Butter hinein, und rührten es mit den Fingern um, bis die Masse teigig wurde. Dieser Tee hatte mir immer am besten geschmeckt. Bei seiner Ankunft, erzählte mir Atan, hatte er Sonam sofort zur Krankenstation gebracht. Aber kurz zuvor war ein Bus mit australischen Touristen in einem Abgrund zerschellt. Es hatte Tote und Verletzte gegeben, und 204
alle Ärzte waren zur Unglücksstelle beordert worden. Yangchen hatte ihr Möglichstes getan, um Sonam und ihr Baby zu pflegen, aber der Zustand des Kindes hatte sich stündlich verschlimmert.
Dazu war Atan mit Birmans Jeep nach Pokhara gefahren. Er erzählte kurz, daß ich eine Schwester in Lhasa besuchen wollte, die auf der schwarzen Liste stand. Birman und Yangchen nickten verständnisvoll und wechselten besorgte Blicke. Die Nachrichten aus der Hauptstadt waren schlecht; es hatte wieder Demonstrationen gegeben. »Die Chinesen sind nervös«, murmelte Birman. »Man hört sie bis über die Grenze brüllen.«
»Brüllen können sie, das ist wahr«, sagte Atan. »Eine wahre Freude, ihnen das Maul zu stopfen.«
Yangchen fuhr mit der Hand in die Tasche ihrer Tschuba und zog einen Rosenkranz aus Bernsteinkugeln hervor, die sie durch die Finger gleiten ließ, um das Böse zu bannen.
»Gib acht, Herr! « seufzte sie kummervoll. »Du bist ein
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