Die Tibeterin
Lippen. Seine Stimme klang rauh.
»Warte eine Minute. Ich sehe Dinge, die ich nicht sehen will. Aber ein Mann kann nicht dasitzen wie ein erschrecktes Kind, das sich die Faust in den Mund stopft.«
Seine Stimme flößte mir Furcht ein.
»Willst du nicht lieber aufhören zu reden?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Was man begonnen hat, soll man zu Ende führen. Seit vierzig Jahren schleppe ich die Erinnerungen mit mir wie Ketten.
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Heute abend will ich sie zu Staub machen.« Er atmete tief, ehe er wieder zu sprechen begann.
»Natürlich wurde Shelo auch in weiblichen Fertigkeiten unterwiesen. Sie lernte, in der Jurte Ordnung zu halten, Ziegen- und Yakwolle zu spinnen, die Butter für die Altarlampen zu mischen und das Morgengebet vor dem Weihrauch-Ofen zu sprechen. Mit bunten Fadensternen und Kreuzstickereien fertigte sie kleine »Geisterfallen«
an, die sie an Holzstäben knüpfte. Sie wurden zu Quadraten, Dreiecken und Sechsecken geformt und an Bäume gehängt, um die bösen Geister von den Weiden fernzuhalten.«
Es wurde sehr dunkel und kalt in der Höhle. Atan schürte die Glut, die Flammen gewannen wieder Kraft. Er sagte: »Ich habe noch nicht von meinem Vater gesprochen. Sein Name war Tilen. Er war ein Waisenkind aus dem Stamm der Horpa. Seine Eltern waren bei einem Erdrutsch ums Leben gekommen. Der kleine Junge überlebte und wurde von meinen Großeltern aufgenommen. Uma, die ihren verstorbenen Kindern nachtrauerte, war sehr zärtlich zu ihm. Im Laufe der Jahre wurde ihr Tilen teuer wie ein eigener Sohn. Shelo und Tilen wuchsen zusammen auf und wurden in den Wintermonaten gemeinsam unterrichtet. Damals gab es auf dem Land keine öffentlichen Schulen. Aber die Klöster richteten kleine Privatschulen ein, wo Laienbeamte arme und reiche Kinder, Mädchen und Knaben, kostenlos unterrichteten. Es wurde lediglich von den Eltern erwartet, daß sie den Lehrern Geschenke machten; einen Sack Reis oder Tee, Zucker, Yakbutter und Schafsfelle. Bei der Aufnahme schenkten die Schüler ihrem zukünftigen Lehrer eine glückbringende Kata. Jedes Kind mußte eine runde Matte mitbringen, auf der es saß, eine hölzerne Tafel, einen Bambusstift, braune Tinte aus gebrannter Gerste und schwarze Tinte aus Ruß. Die Kinder gingen in ihren besten Kleidern zur Schule, und das Lernen wurde mit großer Ehrfurcht betrieben. Tilen zeigte sich besonders geschickt und wurde von den Lehrern sehr gelobt. Er war still und besonnen und lernte gut, während Shelo selten bei der Sache war. Es mangelte ihrem Geist keineswegs an Wissensdurst, aber das Verlangen, auf einem ungesattelten Pferd zu reiten und auf Bäume zu klettern, war stärker. Sie war wild, wenn sie auch aus wohlhabender und fast herrschaftlicher Familie stammte. Umas Erzählungen der räuberischen Vergangenheit ihrer Vorfahren säten Abenteuerlust in ihr Kinderherz. Stillsitzen lag ihr nicht. Shelo und Tilen gingen zur Schule, bis sie die Regeln der Grammatik 248
beherrschten und Rechenaufgaben lösen konnten. Dann waren die Eltern der Ansicht, daß ihre Erziehung sich dem Praktischen zuwenden sollte. Zwar meinte Tenpa Rimpoche, Tilen habe das Zeug, Mönchsbeamter zu werden. Doch der Junge zeigte keine Begeisterung. Nein, er wollte draußen bei den Tieren sein.
Tilen war schon als Kind durch seine Körpergröße aufgefallen. Als Halbwüchsiger überragte er die meisten. Doch er war schüchtern, ging mit gebeugtem Rücken und ließ den Kopf hängen, als ob er seine Hünengestalt als unschicklich empfand. Er war ein Riese mit Kindergesicht, zärtlich trotz seiner Muskelkraft, außerordentlich geschickt im Umgang mit Tieren, besonders mit kranken. Die Hirten brachten ihm oft junge Füllen, die an Koliken litten, oder von Dornen verletzte Ziegen. Tilens gelenkige Finger untersuchten liebkosend das schmerzverkrampfte Tier, das sich bald beruhigen und pflegen ließ. Schon als junger Mann besaß er erstaunliche Kenntnisse über allerlei Planzen, Blätter, Wurzeln und Körner, aus denen er Medizin herstellte, die die Beschwerden der Tiere linderte.
Keiner konnte sagen, wo er sich dieses Wissen erworben hatte. Er besaß diese Gabe von Geburt an, und die Tiere vertrauten ihm. Er betrat sogar das Gehege der Yaks zur Paarungszeit. Für gewöhnlich sind Yaks sehr zutraulich und sanft. Aber wenn sie in der Brunft untereinander um die Weibchen kämpfen, werden sie wild. Sie stehen einander gegenüber, Kopf gegen Kopf, Horn gegen Horn.
Keiner will dem anderen den Weg freigeben. In
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