Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
ihnen ballen sich alle Gewalt und Grausamkeit der Welt zusammen. Es kommt nicht selten vor, daß sie sich zu Tode bekämpfen. Die Tiere sind wie berauscht; sie fallen auch Menschen an, spießen sie auf ihre Hörner auf, werfen sie um und zertrampeln sie. Tilen jedoch zögerte nicht, sich auch in dieser Zeit auf die Weide zu begeben; das Mitgefühl brachte ihn dazu, wenn er ein tödlich verletztes Tier seine Eingeweide hinter sich durch das Gras schleifen sah. Mit einem scharfen Messer gab er ihm dann den Gnadenstoß.
    Wann entdeckten Shelo und Tilen, daß sie einander liebten? Die Nomaden drosseln ihre Kinder nicht mit den Fesseln moralischer Vorurteile. Ihre freie, natürliche Lebensart setzt der Begegnung zwischen den Geschlechtern keine Schranken. Shelo und Tilen ritten gemeinsam in die Berge, fanden Höhlen oder Senken im Tannenwald, die der Wind mit Nadeln gefüllt hatte. Sie warfen sich nackt unter eiskalte Wasserfälle, wärmten sich im gleichen Schafspelz, liebten sich unter einem Himmel, der soviel weiter und 249
    höher war als überall sonst auf der Welt, füllten ihre Sinne mit Lebenshunger und Liebesgier.
    Eines Tages erfuhr Tilen von Shelo, daß sie schwanger war. Beide besprachen, was zu tun sei. Sie wollten den Eltern keinen Kummer machen. Es galt als äußerst schändlich, die Familie durch eine unpassende Heirat zu verstimmen. Nach einer gewissen Bedenkzeit gaben die Eltern ihr Einverständnis, obwohl Tilen nicht aus einer Familie gleichen Standes kam. Shelos Freundinnen taten sehr konsterniert. Die Khammo - die Frauen aus Kham – legen Wert auf Vermögen. Wie? Nur ein einziger Mann, und arm noch dazu? Shelo duldete leichten Herzens ihre Späße. Herden besaß sie genug. Und was das andere betraf, nun, bewies ihr Tilen nicht jede Nacht, daß er drei kräftige Männer zu ersetzen wußte? Nachdem die Hochzeit beschlossen war, begaben sich die jungen Leute mit den Eltern zum Kloster, um Tenpa Rimpoches Segen zu erbitten. Umas Bruder war inzwischen zum Abt ernannt worden, ein hochgewachsener Lama mit langsamen Bewegungen und tiefen, eindringlichen Augen. Seine Hände waren klein für einen so großen Mann und merkwürdig weich. Die Kraft, die in ihm schlummerte, war so gut verborgen, daß niemand sie wahrnahm, am wenigsten er selbst. Es war weniger die Kraft des Glaubens, als die wilde, kühne Kraft seines Nomadenblutes. Jahrelang würde sie ungebraucht in der Tiefe seines Wesens ruhen. Ich aber würde erleben, wie sie erwachte und den ganzen Mann mitriß wie ein berstender Strom.
    Tenpa Rimpoche empfing das junge Paar voller Zuneigung. Er ließ einen Astrologen kommen, um einen günstigen Tag für die Trauung zu wählen. Der Stern des entsprechenden Tages und die Elemente beider Personen müssen übereinstimmen. Das Mädchen sollte nicht älter als der Junge, beide Brautleute auch nicht gleichaltrig sein.
    Plötzlich zeigte der Astrologe ein verstörtes, ja entsetztes Gesicht.
    Man stellte ihm beunruhigt Fragen. Hatte er ein Unglück gesehen, ein böses Omen? Der Alte schüttelte den hageren Kopf. Seine wäßrigen Augen starrten ins Leere. Er bewegte sich zunehmend unruhiger, atmete rasselnd und stieß jene scharfen Zischlaute aus, mit denen ein Orakel verkündet, daß das Sehen über es kommt.
    »Nein, nein! Ihr wäret ein sehr glückliches Paar geworden. Aber es wird nicht dazu kommen… «
    Sein Körper schwang hin und her, die Zischlaute folgten dem Rhythmus seines röchelnden Atems.
    »Das ist kein Fluch! Das ist eine Warnung! Sie hängt über uns wie 250
    der Schatten eines Berges. Das Böse kommt! Der Große Wagen wird die Welt überrollen, unsere Leiber und Seelen zermalmen. Man wird euch trennen, aber diese Trennung ist heilig. Der Mann wird den Edelstein schützen, die Frau durch das Feuer gehen. Die Frucht ihrer zärtlichsten Liebe wird ihr den Schmerz schenken, den sie herbeisehnt, und der wilde Yak ihren Feind durch die Nebel tragen…
    «
    Dann kam der alte Mann wieder zu sich; ein junger Mönch hielt ihm eine Schale Tee an die Lippen. Der Astrologe verschluckte sich, hustete, holte zitternd Atem. Und dann quollen, während das alte Gesicht müde zur Seite sank und ein Beben über sein Kinn lief, Tränen unter den zerfurchten Lidern hervor.
    »Ich weiß nicht, was ich gesagt habe. Mein Herz ist schwer vor Kummer. Das Opfer muß gebracht werden. Die Hochzeit wird nicht stattfinden… «
    Traurig und erschrocken verließen das junge Paar und die Eltern das Kloster. Shelo und Tilen wollten

Weitere Kostenlose Bücher