Die Tibeterin
die bösen Vorzeichen nicht wahrhaben. Sie forderten das Schicksal heraus, bestanden auf ihrem Wunsch. Die verunsicherten Ehern zögerten. Gerührt von der Verzweiflung ihrer Kinder, gaben sie schließlich nach. Ein anderer, jüngerer Astrologe befragte die Sterne, berechnete einen günstigen Zeitpunkt für die Hochzeit und versprach, mit besonderen Riten das böse Omen zu bannen. Da traf die Kunde ein, daß der junge Dalai-Lama, auf Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten des Buddhismus, in Kürze in Lithang eintreffen würde. Ein bedeutendes Ereignis. In der Klosterburg und in den umliegenden Klöster lebten an die sechstausend Mönche und Nonnen. Es gab eine Verwaltung, eine Garnison, eine Polizeistation und ein großes Marktviertel. Lithang selbst hatte zweitausend Einwohner und war für die Bauern und Nomaden der Umgebung eine Art kleinere Hauptstadt. Einige Wochen vor dem Besuch Seiner Heiligkeit reiste eine Abordnung von Lhasa nach Kham, um den Aufenthalt des jungen Gottkönigs vorzubereiten. Der Dalai Lama würde einen Monat in der Klosterburg verbringen und mit vielen Gelehrten Gespräche führen.
Seiner Heiligkeit unterstand ein großer Verwaltungsapparat mit zwei Abteilungen. Die eine bestand aus 175 besonders ausgebildeten Mönchsbeamten, die andere aus der gleichen Zahl adliger Laien.
Nun begab es sich, daß einige dieser Beamten auf der Reise von einem Unwetter überrascht wurden. Faustgroße Hagelkörner zwangen sie, ihren Ritt zu unterbrechen. Meine Großeltern boten den 251
Reisenden an, in ihren Jurten das Ende des Gewitters abzuwarten.
Die prachtvoll gekleideten Beamten wurden mit allen Ehren bewirtet, und Tilen sorgte dafür, daß ihre Pferde die beste Pflege bekamen und ausreichend mit Wasser und Futter versorgt wurden.
Das einnehmende Wesen des jungen Mannes, seine auffallende Körpergröße und sanfte Geschicklichkeit entgingen nicht der Aufmerksamkeit der hohen Besucher. Als sich das Unwetter beruhigt hatte, rief ein älterer Mann Tilen zu sich. Er trug ein kostbares Gewand nach mongolischer Art. Sein Hut war mit goldenen Bändern und Seidenquasten geschmückt. Tilen stand eingeschüchtert vor ihm, ließ Kopf und Arme hängen. Der Beamte stellte ihm mit gütiger Stimme verschiedene Fragen. Die Offenheit und Klugheit des jungen Mannes gefielen ihm. Der Beamte erklärte, daß die Leibwächter des Dalai Lama von besonders kampfgeschulten Mönchen gestellt wurden, die alle über einen Meter achtzig groß sein mußten. Fand man irgendwo in Tibet einen athletischen jungen Mann, der zudem über Scharfsinn und ein angenehmes Wesen verfügte, wurde er nach Lhasa gebracht, wo man ihn für diese ganz besondere Aufgabe ausbildete, vorausgesetzt, er erklärte sich bereit, Mönch zu werden. Die hochgewachsenen, furchtlosen Khampas waren für dieses Ehrenamt nahezu prädestiniert. Ihre Aufgabe bestand darin, die Privaträume Seiner Heiligkeit zu bewachen, während der öffentlichen Zeremonien für Ordnung zu sorgen und den Dalai Lama auf seinen Reisen Geleit zu geben. Ob er, Tilen, bereit sei, sich dieser hohen Aufgabe zu stellen? Das Angebot rief in Tilen Bestürzung hervor. Sein Kinn sank auf die Brust, er brachte kein Wort über die Lippen. Der Beamte lächelte verständnisvoll. Es läge an Tilen, meinte er, sich für oder gegen das Angebot zu entscheiden. Keiner werde gezwungen. Doch welch eine Ehre!
Kaum einer habe es jemals gewagt, sich dieser heiligen Pflicht zu entziehen.
Tilen bat zitternd um einige Stunden Bedenkzeit, die ihm gütig gewährt wurden. Grau im Gesicht suchte er Shelo auf, um sich mit ihr zu beraten. Shelos Herz wurde schwer. Der Astrologe hatte die Wahrheit erschaut. In ihren Augen schimmerten Tränen.
»Tilen, das Schicksal ist gegen uns. Dein Sohn wächst in mir, doch wir müssen uns trennen. Sicherlich hältst du mich in diesem schweren Augenblick für hartherzig – aber das stimmt nicht. Wir müssen das Opfer bringen.«
»Woher weißt du, daß es ein Sohn wird?«
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»Das Geisterpferd hat mich zu ihm geführt.«
»Und du, Shelo, was wird aus dir werden?«
Da belebte sich ihr Gesicht; sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln.
»Du hast doch gehört? Der wilde Yak wird meinen Feind durch die Nebel tragen.«
»Und das Kind?«
»Er wird als Sohn der Großen Jurten geboren. Er wird furchtlos aufwachsen, die Hohen Berge besteigen und die Herden tief unten auf der Ebene wie Ameisenschwärme sehen. Er wird mit dem Adler fliegen und den Sturm reiten.«
Beide Liebenden hatten
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