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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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einige Schritte weit tragen, nicht jedoch auf das Pferd heben. Inzwischen zog das Gewitter weiter; die Sonne leuchtete aus gelben Wolkenschichten, und ein großer Regenbogen schwebte über den Hügeln.
    »Bleib bei ihm«, sagte Shelo. »Ich hole die Hirten.«
    Sie stieg in den Sattel, ritt davon. Ich setzte mich neben das Kälbchen, das zusammengekauert am Boden lag. Es drückte seinen Kopf auf meine Knie.
    Die Hirten kamen bald und brachten den kleinen Yak in das Lager.
    Alle freuten sich über die gelungene Rettung und bewunderten das Tier. Das Kälbchen stand auf zitternden Beinen, und ich hielt es dicht an mich gepreßt. Und um Mitternacht schliefen wir beide in der Jurte, unter der gleichen Decke, als ob es die natürlichste Sache der Welt sei. Am Morgen erwachten wir fast mit dem gleichen Atemzug.
    Shelo stellte lachend das Tier auf den Boden. Nun stand es da, immer noch schwankend, aber man sah ihm an, daß es sich aufrecht halten wollte.
    Das Kälbchen wurde zusehends kräftiger. In den ersten Tagen blieb es in der Nähe der Jurte, dann bewegte es sich frei im Lager.
    Und jeden Abend stand es vor dem Eingang der Jurte und wollte bei mir schlafen. Djigme und Shelo lachten und erhoben keinen Einspruch. Fortan teilten wir das Lager. Weil das Kälbchen blaue Augen hatte, gab ich ihm den Namen Yu -Türkis. Djigme meinte, ich sollte mir etwas anderes einfallen lassen. Tierkinder hätten nur bei der Geburt blaue Augen. Ich glaubte Djigme nicht. Yu war etwas Besonderes! Doch die Farbe der Pupille veränderte sich, wurde schiefergrau, dann schwarz. Ich war enttäuscht, aber Yu behielt 267
    seinen Namen. Eine Zeitlang glaubte ich, das es ganz mir gehörte.
    Yu wuchs schnell, wurde immer lebhafter, tolpatschiger und wilder.
    Bald hatte ich keine anderen Interessen mehr als diesen kleinen Yakbullen. Ich legte große Strecken zurück, um an besonderen Stellen Gras für ihn zu schneiden, das nach Anis oder Honig schmeckte. Ich fand bald heraus, welche Kräutermischung meinem Tier am besten schmeckte. Auch zu den Tränkeplätzen auf den Weiden ging ich, wo die Dri um die Wasserrinnsale standen. Wenn ich meine Stute Powo ritt, hüpfte und sprang Yu übermütig neben ihr her. Powo hatte viel Geduld mit ihm, und die Leute gewöhnten sich an den seltsamen Anblick eines kleinen Yakbullen, der dicht neben einer Stute trottete.
    Den Winter verbrachten wir in Lithang. Ich spielte mit Yu im Hof.
    Bald jedoch wurde es unmöglich, Yu frei herumlaufen zu lassen; er verfolgte die Ziegen, griff die Hunde an und ging mit gesenktem Kopf auf alles los, was sich bewegte – ob es ein flatternder Vogel war oder die im Wind wehenden Gebetsfahnen. Er war wirklich ein stürmischer Bulle; schon wuchsen ihm die kleinen Hörner. Er stellte viel Unfug an; erst wenn ich aus der Schule kam, wurde er friedlich.
    Ich brauchte nur auf besondere Art auf den Fingern zu pfeifen, schon lief er mir entgegen, anhänglich wie ein Haustier. Yus Freundschaft galt nur mir, meiner Mutter und meinem Großvater. Allen anderen Menschen gegenüber verhielt er sich bockig. Von niemandem ließ er sich streicheln oder anfassen, nicht einmal von den Hirten, die doch zu seiner gewohnten Umgebung gehörten. Ich konnte mit ihm umgehen, wie ich wollte, ihn an den Hörnern packen, an seinem dicken Schweif ziehen und sogar auf ihm reiten. Eines abends sagte Djigme zu mir: »Atan, das Tier ist ein Drong. Er wittert dich aus großer Entfernung und kommt, sobald du pfeifst. Das ist eine schöne Sache. Aber ein wilder Yak muß in den Hochtälern leben und lernen, eine Herde zu führen. Du siehst ja, wie gewalttätig er ist. Yu kann nichts dafür, es ist sein Instinkt. Es ist besser, wir schenken ihm die Freiheit.« Meine Kehle wurde eng. »Er ist mein Freund! « stieß ich verzweifelt hervor. Großvater faßte mich an der Schulter.
    »Auf Ehre und Gewissen, mein Junge, er wird es bleiben. Aber du darfst ihn nicht seiner Freiheit berauben. Er wird viel glücklicher in seinen Hochtälern sein als bei uns im Hof, wo wir ihn angebunden halten müssen.«
    So war ich gezwungen, mich von Yu zu trennen. Djigme ritt mit uns in die Berge, auf dreitausend Meter Höhe, wo die Drongs leben.
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    Als die Herde in Sicht kam, stieg ich vom Pferd und bat Großvater, hier zu warten. Er ließ mich gehen. Er wußte, daß mir nichts Böses zustoßen würde. Ich wanderte mit Yu den Hang hinauf, folgte der undeutlichen Spur der Tiere, die sich im Gestrüpp oder zwischen den Steinen verlor. Die Drongs

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