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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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wurden unruhig, als wir uns näherten. Ich machte Yu deutlich, daß ich nicht weitergehen konnte. Ich nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, legte meine Stirn zwischen seine Hörner und nahm weinend Abschied von ihm.
    Yu schien diese Geste zu verstehen; langsam entfernte er sich, näherte sich den Weibchen, die ihn mit dumpfen Brummton riefen.
    Plötzlich wandten die Weibchen sich ab, entfernten sich zwischen den Felsblöcken. Yu folgte ihnen den Hang hinauf. Ich hörte das Rollen eines Kiesels. Dann Stille. Er war fort.
    In der Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich erklomm einen Berghang. Zuerst war Nebel da; dann wuchs eine Gestalt aus dem Dunst. In der Finsternis stand Yu, den Wind witternd. Er schimmerte in der Nacht wie ein Wesen aus Licht; ich steckte zwei Finger in den Mund, begrüßte ihn mit dem gewohnten Pfiff. Yu spitzte die Ohren; dann senkte er den Kopf und stürmte auf mich zu. Im Traum sieht man Bilder, Geräusche hört man selten. Yu fegte völlig lautlos herbei. Seine Hörner glänzten, und ich konnte Blut daran sehen. Ich streckte beide Arme nach ihm aus, doch meine Hände griffen durch ihn hindurch. Als ich an mir herabblickte, leuchtete weißes Licht aus mir.
    Da erwachte ich, steif vor Kälte. Der Morgen dämmerte. Ich hörte ein Geräusch, und meine Mutter setzte sich neben mich.
    »Nun, Atan, hat Yu dir einen Traum geschickt?«
    Verdutzt sah ich sie an. Sie lächelte.
    »Du hast im Schlaf gepfiffen.«
    Ich beschrieb ihr, was ich gesehen hatte. Shelo hörte aufmerksam zu.
    »Von den Tieren kommt viel Kraft«, sagte sie. » Yu hat dir im Traum gezeigt, daß er dein Schutzgeist ist.«
    Ich fragte mit gespannter Stimme:
    »Muß ich jetzt zu ihm beten?«
    »Nein. Schutzgeister bringen uns der Erleuchtung nicht näher.
    Aber sie sind bei uns, Diener, Freunde und Helfer.«
    »Hast du auch einen Schutzgeist, Amla?«
    »Das ist klar«, sagte sie. »Wie könnte ich sonst die Trommel reiten? Yu spricht zu dir in der Sprache des Herzens. Und alles, was 269
    du fühlst, überträgt sich auch auf ihn. Und das ist gut so. Du wirst noch manches von ihm lernen. Vertraue ihm, wenn du in Gefahr bist.
    Er wird dir seine Kraft schenken. So! «
    Sie nahm meine Hand in ihre braune Hand mit den schlanken Fingern und drückte sie leicht. Ich spürte einen warmen Strom, der durch meine Handfläche ging, wie eine seltsame Schwingung. Ein Schauer überlief mich. Mächtige Kräfte pulsierten in meinen Adern.
    Das Gefühl überwältigte mich. Es schien mich von der Außenwelt abzutrennen, sogar von mir selbst. Ich riß die Decke hoch, wickelte mich fest in sie ein, rollte mich zusammen. Shelo indessen saß ganz still. Ihre Hand streichelte mich; ich spürte ihre Finger wie Federn, die leicht und unentwegt meine Schultern und meinen Kopf berührten.
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32. Kapitel

    I ch war ungefähr neun Jahre alt, als mein Großvater, der kurz zuvor noch auf seinem Pferd gesessen hatte, plötzlich ganz blaß im Gesicht wurde und zu Boden sank. Shelo schickte sofort einen Reiter nach Lithang. Bald erschien ein kleiner Mönch, eifrig und lebhaft, bereit, in Buddhas Dienst mit seinen Händen zu heilen. Djigme kam nach einer Weile wieder zu sich. Doch als sich der Arzt über ihn beugte und fragte, wie er sich fühle, konnte er nicht sprechen; die Hälfte seines Mundes war empfindungslos. Sein linker Arm gehorchte ihm nicht mehr, ebensowenig wie die ganze linke Körperseite. Auch der linke Winkel des Mundes und der linke Winkel des Auges waren herabgezogen; trank er etwas, rann ihm die Flüssigkeit seitwärts über die Wange. Man mußte ihn füttern wie ein kleines Kind. Der Arzt kam fast täglich; er half Djigme, seinen Arm zu strecken und zu biegen, damit wieder Kraft in die gelähmten Glieder kam. Gleichzeitig sprach er mit den Augen zu Shelo, wie das Ärzte tun, so daß Djigmes Tod, einen Monat später, sie nicht unvorbereitet traf. Freunde und Verwandte halfen Shelo bei der Vorbereitung zur Trauerfeier. Sie brachte verschiedene Opfer dar, spendete den Armen Geld, um Verdienste für den Verstorbenen zu erwerben. Der Leichnam wurde mit Heilkräutern und besonderen Ölen eingerieben und in weiße Baumwolle gehüllt. In seinen besten Gewändern gekleidet, wurde er vor einem Wandschirm auf Kissen gebettet. Djigme trug einen Umhang, mit Luchsfellen gefüttert, seinen Festschmuck und einen Kopfputz, der fünf Götterbilder darstellte. Butterlampen brannten auf dem Altar, die Luft war dunstig vor Weihrauch. Das Haus war voller Menschen,

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