Die Tibeterin
die kamen und gingen. Djigme lag da, mit gefalteten Händen, als ob er heiter vor sich hin träumte. Ein feines Lächeln schien auf seinen Lippen zu schweben; der Anblick tröstete mich ein wenig. Sterben war vielleicht doch nicht so schlimm, wie ich dachte. Eine Gruppe Lamas, acht an der Zahl, kauerten auf dem Teppich. Sie wiegten sich leicht vor und zurück und beteten mit weichen, summenden Stimmen. Ihre Aufgabe bestand darin, Tag und Nacht bei dem Leichnam zu wachen, solange er im Haus blieb. Der Astrologe kam, bestimmte die Zeitspanne der Aufbewahrung und den Tag für die Bestattung. Die Zeremonie sollte nach vier Tagen zur »Stunde der Schlange« – am hellichten Morgen also – stattfinden. Die 271
»Windbestattung« wurde im Beisein der Lamas durchgeführt.
Angehörige waren nur auf ausdrücklichen Wunsch zugelassen.
Kinder niemals.
Der Ausdruck »Windbestattung« blieb mir bei aller Vertrautheit ein Geheimnis. In meiner Phantasie sah ich Großvater in einer Luftsäule zu den Wolken schweben. Man sagte auch, daß die »Boten des Himmels« die Verstorbenen zu den Göttern trugen. Wie denn?
Auf Vogelschwingen? Und warum durfte ich das nicht sehen? Die Neugierde wuchs und ließ mir keine Ruhe, so beschloß ich, heimlich dabei zu sein. Mein gütiger Großvater würde mir verzeihen.
Am letzten Tag, bevor die Leiche aus dem Haus gebracht wurde, trugen die Dienstboten frühmorgens kleine Eimer mit Butteröl in die Klöster und Tempel. Sie nahmen auch die Kleider des Verstorbenen mit, alle gut verpackt und beschriftet, als Opfergaben für die Lamas.
Zur festgelegten Stunde wurde der Leichnam zum Ort der Bestattung gebracht. Die Lamas sangen Gebete und schlugen kleine Zimbeln.
Shelo führte die Prozession eine kurze Wegstrecke an, weil ein Familienmitglied diese Pflicht erfüllen mußte. Dann blieb sie mit gefalteten Händen stehen, und die Verwandten brachten sie zurück nach Lithang.
Keinem fiel auf, daß ich mich davonstahl, und, als alle fort waren, der Prozession in vorsichtiger Entfernung folgte. Der Ort befand sich weit abseits der Stadt, hinter dem Ausläufer einer Hügelkette, die der Wind zu seltsam geformten Felsrippen geschliffen hatte. Tiefe Stille lag über der Landschaft, nur der Wind sang wie ein fernes Flötenspiel. Als die Prozession anhielt, duckte ich mich hinter die Steine. Ein Diener hatte Djigme auf seinem Rücken getragen; nun lud er ihn behutsam auf einer Felsplatte ab. Sechs vermummte Männer warteten bereits dort. Das wenige, was ich von ihren verhüllten Gesichtern sah, war braun wie Holz. Nur noch die Mönche knieten abseits in ihren roten Gewändern. Der Wind trug mir das Murmeln der Gebete zu, den hellen Klang der kleinen Zimbeln. Ich nahm all meinen Mut zusammen, wie das Knaben tun, und kroch unbemerkt näher. Ein plötzliches Flügelrauschen ließ mich den Kopf heben. Geier segelten mit ausgebreiteten Schwingen über die Felsen. Sie flogen mit starken Schlägen und begannen, in immer engeren Kreisen abwärts zu schweben. Ihre Schatten glitten dicht über mich hinweg, so daß ich ihre weiße Sprungfedern sah. Ich verstand das nicht. Wenn Geier sich auf diese Weise versammelten, so geschah es stets, um sich auf ein verendetes Tier herabzustürzen –
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das war mir seit jeher bekannt. Doch mein entsetztes Kinderherz wollte nicht glauben, daß die Anwesenheit dieser Vögel etwas mit meinem Großvater zu tun hatte. Zum ersten Mal befiel mich Angst.
Angst vor dem Unbegreiflichen, vor dem, was ich nicht fassen konnte. Bei jedem Atemzug schlug mein Herz heftiger, stieg die Gänsehaut mir über Hals und Arme.
Inzwischen wickelten die Männer ihre Tücher fester um den Kopf des Leichnams, so daß nur die Augen freiblieben. Zwei von ihnen hoben ein Beil auf und wogen es in der Hand. Sie drehten den verhüllten Leichnam flach mit dem Gesicht nach unten auf den Felsen. Die Angst vor Bestrafung für mein heimliches Zuschauen wuchs durch das Entsetzen vor dem Mysterium. Und trotzdem brachte ich es nicht fertig, davonzulaufen. Die erschreckte Überraschung, die nackte Furcht lähmten mich ganz. Das war das Ende meiner Kindheit, ich hatte es plötzlich begriffen. Da sah ich beide Männer das Beil hoch über den Kopf schwingen. Die Schneiden glitzten silbrig in der Sonne, sausten herunter, als wüßten sie selbst, was sie zu tun hatten. Mit schrecklich klatschendem Geräusch flogen Djigmes beide Arme vom Körper. Vor Grauen stieß ich die Faust in den Mund. Mein Großvater, nein, nicht
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