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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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selbstgefällig herum und ließ mich bewundern. Kinder vergessen schnell.
    Unsere Herden stellten ein beachtliches Vermögen dar, das Shelo als einzige Tochter nun erbte. Auf seinem Sterbebett hatte ihr Djigme die Führung des Clans anvertraut. Die Khammo kannten sich in diesen Dingen aus. Sie handelten klug und umsichtig, ließen sich selten auf Streit ein und behielten das Wohl der Allgemeinheit im Auge. Die Männer waren oft monatelang unterwegs – früher auf Raubzügen, heute, um Salz zu gewinnen oder Tauschhandel zu treiben. Bald begannen auch ältere Häuptlinge, Shelos Meinung mit Wohlwollen zu hören, und aus Wohlwollen wurde Achtung. Daß Shelo eine »Erfinderin der Schätze« war, verstärkte ihren Einfluß.
    Die Menschen kamen von weither, um ihre Gesänge zu hören.
    Meine Mutter verbrachte täglich viele Stunden im Sattel. Unter ihrem Filzhut fiel ihr geflochtenes Haar weit über die Hüften hinab.
    Schwere Ketten aus Korallenkugeln und rautenförmigen Silbergeschmeide funkelten auf ihrer Brust. Ihre Tschuba aus Rohseide war hinten gerafft wie ein Königsmantel. Neben der Reitgerte steckten zwei Dolche mit silbernen Griffen in ihrem Gürtel; sie trug stets ein Gewehr bei sich, manchmal einen Bogen.
    Shelo war sechsundzwanzig Jahre alt. Ihre Haut war faltenlos, ihre Lippen waren frisch und rot. Und doch lag ein strenger Stolz auf ihrem Gesicht, der sie älter erscheinen ließ. Ich ritt neben ihr her und hatte viel zu lernen.
    Mein Pferd hieß »Khan«, er war ein heißblütiger, prächtiger Rappe mit eisernen Kiefern und samtenem Maul, das eigentlich viel zu groß für mich war. Seine Lungen hatten nie Erschöpfung gekannt, und in seinem tapferen Herzen hatte nur ein Gefühl Platz: seine Liebe zu mir. Shelo, die unfehlbar das Wesen eines jeden Pferdes erkannte, vertraute mich ihm an. Man sagt, die Khampa-Pferde hätten mehr 276
    Verstand als ihre Reiter… Ich könnte nichts über die Liebe zu meinem Land sagen, wen ich diese Liebe nicht erlebt, sie nicht eingesaugt hätte mit der Muttermilch. Ich trage den Zauber meiner Heimat in mir. Noch heute suche ich in meiner Erinnerung unsere Lagerfeuer am Rande der Welt.
    Ich habe den Dalai Lama sehr lange nicht verstanden. Es gab eine Zeit, da meine kindliche Verehrung in Mißtrauen und Zorn umschlug. Jene Zeit nämlich, als wir kämpften und starben, und Seine Heiligkeit uns zur Gewaltlosigkeit aufrief. Heute weiß ich, daß Haß aus Haß geboren wird. Der Dalai Lama sah tiefer; der Schmerz, den er empfunden haben muß, können wir nur erahnen. Als Seine Heiligkeit uns aufforderte, die Waffen niederzulegen, schossen sich einige von uns eine Kugel durch den Kopf. Wir waren unserem Haß ausgeliefert.
    Ich war elf, als meine Mutter einen Verwalter anstellte, der ihr bei der Arbeit half. Namyang war ein fröhlicher, gut aussehender Mann, der bereits eine Frau und drei halbwüchsige Söhne hatte. Es dauerte nicht lange, da bat er Shelo, seine zweite Frau zu werden. Doch Shelo fand es nicht klug, ihn zu heiraten; sie befürchtete –
    vermutlich nicht zu unrecht – daß mir meine Halbbrüder das Erbe streitig machen könnten. Namyang fügte sich, ziemlich widerstrebend, wie ich später erfuhr. Er versuchte mehrmals, Shelo zu überreden, doch sie blieb bei ihrer Meinung. Ob sie Liebhaber hatte? Ja, gewiß, und soviel sie wollte. Nicht selten hatte ich Männer vor ihrer Jurte warten sehen; Nomadenkinder kennen das Geheimnis, sie sehen es oft genug bei den Tieren, und nehmen es als etwas Natürliches hin. Doch ihre Gefühle sind – wie bei allen Kindern –
    noch in Knospen gehüllt und zart.
    Zu jener Zeit erreichten die Nachrichten aus der Hauptstadt nur verspätet unsere Hochtäler. Viele Dinge geschahen, ohne daß man uns befragt hätte. 1951 hatten tibetische Abgeordnete in Abwesenheit Seiner Heiligkeit in Peking den sogenannten 17-Punkte Vertrag unterschrieben, der Tibet praktisch den Chinesen auslieferte.
    Das Siegel des Dalai Lama, das den Vertrag beglaubigte, war eine Nachahmung. Und 1959, auf dem Weg ins Exil, erklärte Seine Heiligkeit den Vertrag als ungültig. Das alles ist inzwischen bekannt.
    Es war schon so, daß die Mehrheit der Tibeter in Frieden leben wollte. Die Chinesen bemühten sich sehr, das Land zu modernisieren. Sie erschlossen Erdölvorkommen, bauten Schulen und Krankenhäuser - eines für die Tibeter, die anderen für ihre 277
    eigenen Leute und die Soldaten. Es galt als Bevorzugung, wenn kranke Tibeter in diese Lazarette aufgenommen und

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