Die Tibeterin
mein Großvater! Das war nicht möglich. Er, der noch als Verstorbener so friedlich gelächelt hatte, wurde vor meinen Augen in Stücke geschlagen. Und mit jedem Hieb, der sein Fleisch, seine Knochen zerhackte, schienen sich die Geier zu vermehren. Ihre Flügel peitschten die Luft, während sie über die Felsen flatterten. Sie falteten die Schwingen, landeten mit ausgestreckten Krallen.
Schluchzen stieg in mir hoch, als die Männer den Geiern die zerstückelten Gliedmaßen zuwarfen. Ich lehnte an einem Stein und erbrach mir beinahe das Herz aus dem Leib. Die Geier fraßen, was ihn vorgeworfen wurde, und warteten mit kleinen Zischlauten, bis sie wieder gerufen wurden. Alle Knochenreste wurden in einem Kübel zerstampft, mit Gehirn und Eingeweide zu einem Brei vermischt; nicht das geringste durfte von dem Körper zurückbleiben.
Ich aber preßte mich an die heißen Steine. Der Wind wehte stärker, blies Sand und Staub in meine Augen. Und mit dem Wind schien eine Stimme zu mir herüberzuwehen. Da fiel ein Schatten über mich.
Blinzelnd hob ich die Augen. Ich sah ein besorgtes Gesicht, spürte Hände, die sanft meine zuckenden Schultern packten. Ein junger, kräftiger Lama kniete in seinem roten Gewand vor mir auf dem Stein. Er beugte sich vor, ich starrte ihn an, klammerte mich an ihm 273
fest, mit den verzweifelten Armen eines Ertrinkenden.
»Was tust du hier, Atan?« hörte ich ihn sanft fragen. »Weißt du denn nicht, daß Kindern dieser Ort verboten ist?«
Ich drückte den Kopf an seine Schultern. Er war ein ernster junger Mann, braun und dunkeläugig. Mit seiner harten jungen Hand strich er zärtlich über mein Haar. Er sprach weiter, mit leichtem Vorwurf in der Stimme:
»Du hättest nicht kommen sollen. Es ist nicht gut, zu früh und zu sehr aus der Nähe Dinge zu sehen, die du nicht verstehst.« Meine Zähne schlugen aufeinander. Ich stammelte:
»Sie tun meinem Großvater weh. Er war so ruhig und hat gelächelt.
Jetzt hat er ganz entsetzliche Schmerzen… « Doch der Lama schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang völlig ruhig.
»Nein. Es macht ihm nichts mehr aus. Hast du nie eine Schlange im Frühling gesehen, die ihre Haut wie eine vertrocknete Hülle verläßt? So ist es auch mit uns Menschen. Dein Großvater braucht seinen alten Körper nicht mehr. Eine neuer, unverbrauchter Körper wartet schon auf ihn.«
»Wie lange muß mein Großvater warten, bis… bis er wieder leben kann?«
»Nur neunundvierzig Tage. Vielleicht gelingt es ihm sogar früher, weil er ein guter Mensch war. Deswegen ist es so wichtig, daß der verbrauchte Körper schnell vernichtet wird.«
Ich fragte: »Wird er wieder aussehen, wie er war?«
»Gewiß nicht. Er wird als Säugling wiedergeboren. Ein ganz neuer Mensch, ein ganz neues Leben! Ist das nicht wunderschön? Aber es ist durchaus möglich, daß sein Geist sich an einiges aus seinem früheren Leben erinnert. Jeder Mensch hat da etwas zu erzählen.
Sogar du. Hast du nie das Gefühl gehabt: Diese Sache kenne ich, an diesem Ort bin ich schon mal gewesen?«
Ich nickte verwirrt. Der junge Mönch lächelte mir zu, wie ein Freund.
»Nun, Kind, das alles ist schwer für dich. Nimm es als Erfahrung auf deinen Lebensweg mit. Vielleicht macht es dich stark. «
Langsam klärten sich meine Augen. Die Männer räumten ihre Sachen zusammen. Die Geier hatten ihre Aufgabe erfüllt, die Seele meines Großvaters befreit. Ich fühlte mich besser. Nach einer Weile erhob sich der Lama und nahm meine Hand.
»Die Männer haben ihre Arbeit getan. Jetzt werden sie essen und trinken. Komm, ich bringe dich zu deiner Mutter zurück. Sie wird 274
sich bestimmt Sorgen machen.«
Unruhig schaute ich auf. Mein schlechtes Gewissen plagte mich.
»Werden Sie ihr sagen, wo Sie mich gefunden haben?«
Er begegnete ernst meinem Blick.
»Nur mit deiner Erlaubnis. Ich bin ein Mönch und kann schweigen.« Ich schluckte und sagte dann:
»Ich will es ihr lieber selbst sagen.«
Er lächelte und drückte meine Hand.
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33. Kapitel
N ach dem Tod meines Großvaters wurde an jedem siebten Tag ein besonderes Gebet gesprochen. Drei Wochen später war die offizielle Trauerzeit vorbei. Wir mußten das Haar waschen und ein Schwitzbad nehmen. Alle Gebetsflaggen wurden ausgewechselt.
Freunde und Verwandte schenkten uns neue Kleider. Ich bekam einen Filzhut, wertvoll bestickte Stiefel und einen Mantel aus Schafspelz, mit jadegrünen Brokatstreifen gesäumt. Die Kleider gefielen mir sehr; ich stolzierte
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