Die Tibeterin
Links davon ein anderer. Acht Runden mußten gedreht werden, bevor der Sieger sein naßgeschwitztes Pferd mit knappem Vorsprung durch das Ziel brachte. Doch bis zu diesem Sieg, welche Hetzjagd, welche Verfol gung! Welch wildes, verbissenes Getümmel! Die dichtgedrängten Zuschauer jubelten. Ich sah an Xiao Dans Gesicht, daß er noch nie so erstaunliche Reiter gesehen hatte. Er ließ Shelo nicht aus den Augen, die mit den Gewinnern scherzte und trank. Ich sagte zu Xiao Dan:
»Meine Mutter hält eine große Überraschung für uns bereit! «
»Und was sollte das wohl sein?« fragte er.
Ich blinzelte ihm zu.
»Sie werden schon sehen!«
Schon wechselte das Bild. Junge Männer und Frauen zeigten ihre Reitkünste. Sie konnten auf dem Pferderücken stehen oder gleichzeitig zwei Pferde reiten, indem sie mit jedem Fuß auf einem standen. Sie glitten unter dem Leib ihre Pferde auf die andere Sattelseite, hingen am Hals ihrer Tiere, ließen sich im Galopp mitschleifen, schwangen sich von beiden Seiten wieder empor. Sie beugten sich mit angezogenen Knien weit aus dem Sattel, schwangen ihren linken Arm nach vorn, hoben weiße Glücksschärpen oder Zigarettenpäckchen vom Boden auf. Höhepunkt des Festes war das Bogenschießen. Das Ziel, eine Bronzescheibe, mit einer handtellergroßen Öffnung in der Mitte, hing an einer roten Seidenschnur und wurde von einem Jungen zum Schaukeln gebracht.
»Jetzt! Jetzt!« schrie ich, als Shelo an die Reihe kam. Xiao Dan stand neben seinem Fahrrad und sah gebannt zu. Shelo ritt stehend, in langsamem Trab. Ihr rotseidenes Mantelkleid wehte im Wind. Ihre Reitstiefel aus weichem Leder fingen jede Bewegung des Pferdes ab.
Sie hielt ihren Bogen in der Hand; den mit Pfeilen gefüllten Köcher hatte sie geschultert. Plötzlich, mit einigen kleinen Zischlauten, trieb sie Lapka zu voller Geschwindigkeit an. Und während die Stute im geschmeidigen, weichen Galopp vorbeijagte, nahm Shelo mit blitzschneller Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher, spannte den Bogen, ließ den Pfeil losschnellen, legte einen zweiten an, bevor der erste die Scheibe erreicht hatte. In einem einzigen Bewegungsfluß schoß sie auf diese Weise sieben Pfeile ab, die alle die Öffnung der Bronzescheibe durchflogen. Dann brachte sie ein kleiner Sprung wieder sitzend in den Sattel. Ich sehe sie noch heute, wie sie ihre 282
Stute herumriß, fröhlich lachend ihren Bogen schwang. Der Anblick wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich werde ihn mit in den Tod nehmen als das Schönste, was meine Augen auf Erden je erschauten.
Ob ich auch ein guter Bogenschütze sei? wollte Xiao Dan wissen.
Und wieviel Pfeile ich denn durchs Ziel brächte?
»Manchmal zwei«, erwiderte ich wahrheitsgetreu, und fügte gleich eine Übertreibung hinzu: »Oder auch drei oder vier! « Die Prahlerei war nicht so waghalsig, wie sie klang: Xiao Dan hörte nur mit halbem Ohr zu, denn Shelo ritt uns entgegen. Als Siegerin hatte sie einen jungen Hengst erhalten, der neben ihr an der Leine trabte; ein feingliedriger Rotbrauner aus guter Zucht, mit intelligenten Augen.
Das Tier trug eine schön gewebte Satteldecke, eine Glücksschärpe war um seinen Hals geschlungen. Shelos Augen richteten sie auf Xiao Dan, der an seinem Fahrrad lehnte. Sie lächelten einander zu.
Er nannte seinen Namen und sagte, daß er mein Lehrer sei. Shelo erwiderte, daß Kelsang Jampa es ihr bereits mitgeteilt habe. Ob er reiten könnte, fragte sie. Er schüttelte lachend den Kopf und zeigte dabei ein Aufblitzen ebenmäßiger weißer Zähne.
»Ich wüßte nicht einmal, von welcher Seite ich aufzusteigen hätte!
«
Sie hob ihre Brauen, die schwarz und kühn geschwungen waren wie Schwalbenflügel.
»Von beiden Seiten und im Notfall von hinten«, gab sie spöttisch zurück. Sie betrachtete den jungen Chinesen. Er war ein Fremder und vielleicht sogar ein Feind. Seine Güte und Freundlichkeit waren trotzdem offensichtlich. Unvermittelt sagte sie: »Ich habe soeben diesen Hengst gewonnen. Er geht sehr gleichmäßig und hat ein freundliches Gemüt. Sein Name ist Tokar. Unsere Pferde haben Namen und sind fühlende Wesen, merken Sie sich das. Mein Sohn lernt bei Ihnen Chinesisch. Wenn Sie es wünschen, kann er Sie das Reiten lehren.«
Ihre Worte klangen leicht herausfordernd. Für eine Khammo ist ein Mann, der nicht reitet, kein Mann. Dazu kommt, daß die Chinesen oft grausam zu Tieren sind, was uns sehr mißfällt. Aber Xiao Dan machte ein erfreutes Gesicht und ging sofort auf ihren Vorschlag
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