Die Tibeterin
ein.
Seine Wangen waren um eine Spur dunkler geworden. Heute weiß ich, daß es ihm darum ging, in der Nähe meiner Mutter zu sein. Und so lernte er in kürzester Zeit reiten. Er besaß eine eigenartige, ruhige Macht über sein Pferd, frei von Emotion und auf stille Weise wirksam, so daß er im voraus jede Bewegung abschätzte und das 283
Tier durch die Kraft seines schweigenden Willens lenkte. Er war oft in unserer Jurte zu Gast oder ritt mit meiner Mutter Steigbügel an Steigbügel. Inzwischen behandelte sie ihn, als sei er in ihrem Land geboren. Wenn sie mit ihm scherzte, leuchteten seine Augen wie die Augen eines Hundes, den man streichelt. Mir erzählte er Geschichten aus dem alten China, in denen furchtlose Helden Tragödien und Gefahren meistern. Ich genoß diese Geschichten. Sie sprudelten aus Xiao Dan wie aus einem unerschöpflichen Brunnen. Bald begann er, tibetische Kleider zu tragen. Er war Parteimitglied, aber von Natur aus ein Liberaler. Ihn trugen die Fundamente eines einfühlsamen, natürlichen Verstandes. Er mißtraute dem grandiosen Chor derer, die überzeugt waren, sie allein hätten alle Wahrheiten der Doktrin für sich gepachtet. Doch allmählich ging eine Veränderung mit ihm vor.
Er wirkte merkwürdig bedrückt. Sein Gesicht verzog sich nicht mehr zu einem verschmitzten Lächeln, wenn er zu mir sprach. Im Unterricht trug er eine kalte, sachliche Miene zur Schau. In seinen Augen stand eine eigenartige Unruhe. Ich erinnerte mich an die Gerüchte, die über die Kommunisten im Umlauf waren. Es hieß, daß die Chinesen Neuangekommene zu erproben pflegten; daß sie überall Spitzel hatten und hart gegen ihre eigenen Leute vorgingen, wenn sie sich an eine fremde Lebensart anpaßten und das entwickelten, was sie »nichtproletarisches Denken« nannten. Ich konnte mir nichts unter all dem darunter vorstellen und war verwirrt.
Und ich vermißte sein Lachen.
In einer Sommernacht erwachte ich und fand Shelo nicht neben mir in der Jurte liegen. Ich rief sie halblaut, bekam aber keine Antwort.
Da warf ich meine Decke zurück, trat leise nach draußen. Die dunkle Luft war durchscheinend klar. Ein ununterbrochenes Gewirr von Geräuschen zog durch die Nacht: das ferne Meckern der Ziegen, das Zirpen der Grillen; Fledermäuse schwirrten wie kleine schwarze Geister über die Jurten. Ich wanderte fort vom Lager, einen kleinen Bach entlang. Plötzlich blieb ich mit zurückgelehntem Kopf stehen.
Angespannt lauschte ich. Das Geräusch, das ich hörte, erschien mir wie ein natürliches Echo der Steppe, dem Flüstern hoher Gräser ähnlich, wenn der Atem des Windes sie berührt. Und doch war es eine menschliche Stimme. Ich merkte kaum, daß ich mich bewegte, dem Geräusch entgegen ging. Durch das Plätschern des Wildbachs hörte ich es deutlicher: Er war die Stimme einer Frau, rein, klar und unbeschwert. Mein Herz schlug heftig. Es war die Stimme, die mich in Tausenden von Nächten in den Schlaf sang, die zum Klang der 284
Trommel das Geisterpferd lenkte, die so gut lachen, scherzen und befehlen konnte.
Es war die Stimme meiner Mutter. Als ich näher heranschlich, sah ich, daß zwei Gestalten neben dem Bach am Boden lagen. Das Gesicht des Mannes konnte ich nicht sehen, aber ich wußte, daß es Xiao Dan war. Er war völlig nackt. Seine schöne, lange Rückenlinie, sein Gesäß, seine Schenkel schimmerten wie Marmor im Sternenlicht. Shelos offenes Gewand war bis zu ihrer Taille hochgezogen, darunter trug sie nichts. Xiao Dan hielt sie mit beiden Armen umfangen, drückte sein Gesicht auf ihren nackten, langsam kreisenden Bauch. Ihre Haare lagen wie ein Kranz auf dem weißen Ufersand. Ich sah ihre Hände, die das Haar des Mannes streichelten, dann wieder nur ihr Gesicht mit den glänzenden Augen. Sie öffnete ihre Schenkel weit, und er drückte sein Gesicht hinein, während sie die Beine leicht anhob und leise seufzte. Ich stand wie gebannt; das alles dauerte endlos. Auf einmal richtete Xiao Dan sich auf, preßte ihren Körper an sich, stieß kraftvoll in sie hinein, tat es immer und immer wieder. Sie hob das Becken, um ihn noch tiefer in sich einzulassen. Ich sah den federnden Rhythmus seiner Muskeln, sah, wie er sich in der warmen, dunklen Öffnung bewegte, durch die ich das Licht der Welt erblickt hatte. Ich fühlte Schmerz und Leere in mir, weil meine Mutter ihm Einlaß gewährte; weil sie ihr warmes, weiches Fleisch für ihn öffnete. In diesem Leib hatte sie mich getragen, neun Monate lang, ihr Atem hatte
Weitere Kostenlose Bücher