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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Züge plötzlich ein verhaltener Schmerz.
    »Würdest du es wünschen, Atan?«
    Die Stille dehnte sich aus, bis ich nach einer Weile langsam den Kopf schüttelte.
    »Nein, ich glaube nicht.«
    Er ließ einen Laut hören, der wie halb ein Lachen, halb ein Seufzer war. Ich konnte nur die Oberfläche seiner Seele erkennen. Und doch wußte ich, daß er mich durchschaute.
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35. Kapitel

    Z u Beginn des Spätherbstes waren die Tage fast immer grau.
    Manchmal klarte der Himmel auf, wölbte sich hart und blau über den Bergen, die dunkel glänzten wie Zinn. Wir hatten die Tiere von den Hochweiden ins Tal gebracht, unser Winterquartier in Lithang bezogen. Ich besuchte weiterhin die tibetische Schule; daneben ging ich in den chinesischen Unterricht. Ich beherrschte die Schriftzeichen schon recht gut.
    Es kam mehrmals vor, daß chinesische Offiziere dem Unterricht beiwohnten, sie saßen schweigend da und machten sich Notizen. Wir Kinder waren jedesmal sehr eingeschüchtert. Sogar die Vorlautesten wurden still. Wir lachten zwar hinter ihren Rücken, aber ihre Anwesenheit wirkte beklemmend. Es hieß, am Anfang käme man mit den Chinesen gut aus, später jedoch seien sie »wie eine nasse Haut, die immer enger wird, wenn sie trocknet«. Eines Tages kamen zwei Männer, die wir noch nie gesehen hatten, in die Klasse. Der eine war schmalgesichtig und kurzbeinig und trug eine dicke Brille.
    Er setzte die ganze Zeit eine übereifrige Miene auf und gehörte offenbar zu den Menschen, die sich gerne vordrängen. Der andere, ein hochgewachsener Offizier, machte einen stattlichen Eindruck.
    Kommandant Chen Wenyuan war so groß, daß sein Kopf fast bis an die niedrigen Deckenbalken reichte. Sein Knochenbau war kräftig, und er hatte die schwerfälligen, aber geschmeidigen Bewegungen eines Ringkämpfers. Seine Haut war fahl, trotz der Sonnenbräune.
    Die Augen mit den kleinen Pupillen lagen tief in den Höhlen, wirkten teilnahmslos und sahen doch alles. Sein Kinn war sorgfältig rasiert, und seine Nasenflügel bebten, wenn er sprach. Auf den ersten Blick hatte er ein rundes, eher wohlwollendes Gesicht; trotzdem waren alle Linien hart und auf merkwürdige Weise nach unten gezogen. Er konnte auch lächeln, nicht frostig, sondern auf eine freundliche, verbindliche Art. Aber trotzdem, es war unecht, dieses Lächeln, eine Pose.
    Xiao Dan erklärte, die Herren seien gekommen, um unsere Fortschritte zu prüfen. Er sprach in heiterem Ton, doch ich bemerkte seine Angst. Das verwirrte mich. Ich spürte die Gefahr, listig, giftig und vielleicht unabwendbar; ich konnte sie buchstäblich riechen.
    Chen Wenyuan ließ jedes Kind aufstehen und ein paar chinesische Sätze sagen; als ich an der Reihe war, nickte Chen Wenyuan mit 290
    wohlgefälliger Miene und sprach einige lobende Worte auf tibetisch.
    Er artikulierte sehr deutlich und hatte eine gute Aussprache. Seine Stimme war erregungslos, eigentümlich fremd; eine fremde Stimme, die fremde Gedanken vermittelte. Er lächelte dabei. Das Lächeln erfaßte nur den Mund; die Augen blickten stählern und unbeteiligt.
    Ein solches Lächeln täuscht kein Kind. Ohne nachzudenken wußte ich, daß er mich in Wirklichkeit verhöhnte. In seinem Lächeln lag eine solche Verachtung, daß sich in mir plötzlich ein bisher unbekanntes Gefühl regte: das Gefühl, gedemütigt zu werden.
    Plötzlich empfand ich eine Wut, wie ich sie noch nie in meinem Leben gespürt hatte. Dieser ekelhafte Klotz wagte es, mich, einen Sohn aus großer Jurte, wie Dreck zu behandeln! Ich legte allen Hochmut, dessen ich fähig war, in meinen Blick, schaute ihm gerade in die Augen und wartete ab, was er tun würde. Chen Wenyuans Blick glitt nur leicht über mich hin; so betrachtet man eine elende Raupe, die man zerquetscht und gleich wieder vergißt. Wenn ich gekonnt hätte.
    Der Tonfall hatte zur Folge, daß Dan noch nervöser, noch bedrückter wurde. Unruhe flackerte in seinen Augen. Ich spürte dieses undefinierbare Fluidum, diese Trübung der Atmosphäre, durch die sogar ein Kind errät, daß ein Mensch sich fürchtet. Seine Furcht aber war von besonderer Art. Manchmal, wenn er sprach, zuckte ein krampfhaftes Lachen um seinen Mund. Jenes verbitterte, ironische Lachen, das dann erst aufstiegt, wenn man alle Tränen geweint hat.
    In Lithang waren die meisten Häuser kleine Festungen, mit Dächern, die einander fast berührten. Zwischen den Mauern waren Heuschober aufgerichtet. Wir Kinder kletterten daran hinauf und hinab, sprangen von einem

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