Die Tibeterin
Unterholz brachen.
Drongs! Von allen Seiten erfüllten jetzt die Geräusche knackender und raschelnder Zweige den Wald. Ich stand ebenso regungslos wie der Baumstamm, an dem ich lehnte. Gemächlich zogen die Drongs vorbei, wandernden Felsblöcken ähnlich. Die Geräusche entfernten sich; auf einmal herrschte lastende Stille. Kein Vogel flatterte oder erhob seine Stimme.
Aus dem Wald jenseits der Lichtung löste sich eine Gestalt.
Schwerfällig, riesengroß, trat sie aus dem Schatten. Ein Yakbulle in all der gewaltigen Kraft seiner Gattung – mit dem Unterschied, daß er – und er alleine – schneeweiß war. Fast ein Jahr war es her, daß ich mich von Yu getrennt hatte. Das Tier, das ich nun sah, war das leuchtende Gespenst meiner Träume. Er stand im Tannenwald wie ein Riese aus der Vorzeit, so ruhig, daß ich die dunklen Augen sah, in denen sich der Bogen der Sonne widerspiegelte. Da legte ich beide Finger an die Lippen, stieß den schrillen, vogelähnlichen Ruf aus, mit dem ich einst meinen kleinen Bullen zum Spiel aufgefordert hatte. Yu spitzte die Ohren. Seine dunklen Nüstern blähten sich. Er wußte, wer ich war. Es war ganz selbstverständlich und natürlich, daß ich ihm entgegenlief, daß ich ihm um den Hals fiel und den breiten Kopf an mich zog, wie früher.
Ich sprach zu ihm, leicht vor mich hinsingend, und er hörte zu. In seinen Augen sah ich Ausdrücke auftauchen und wechseln, die ich einer nach dem anderen benennen konnte: Freude, Wohlwollen, Großmut und Gutmütigkeit. Und auch er sprach zu mir, mit diesem langsamen Dröhnen in seiner Brust. Unvermittelt schwoll ein Laut aus seiner Kehle wie ein lauernder böser Atemzug. Ich stand im 287
selben Augenblick aufrecht. Durch Yus Reflexe hindurch, dessen Regungen ich von Anfang an kannte, hatte auch ich gespürt, daß die Unruhe nahte. Den Hufschlag und das Stampfen des Pferdes hörte ich, bevor ich etwas sah. Dann spielte sich alles mit betäubender Schnelligkeit ab. Das Hufgeräusch schien von allen Seiten zugleich zu kommen, die ganze Lichtung mit seinem Trommeln zu erfüllen.
Yu zuckte zusammen, als Dans rotbrauner Hengst aus dem Dickicht stürmte. Die Wucht seines Durchbruchs war so groß, daß die Äste krachten und splitterten. Im Zeitraum einer flüchtigen Sekunde sah ich Dans schlanken Körper, sah das Aufblinken von Metall, die aus kurzer Entfernung auf uns gerichtete schwarze Mündung seines Gewehres. Er schrie aus Leibeskräften.
»Weg da, Atan!«
Ich begriff im selben Atemzug, daß er nicht abdrücken konnte, weil ich mich genau in der Schußlinie befand.
»Nicht schießen!« brüllte ich.
Der kleine Hengst rollte wild die Augen. Dan riß ihn auf der Hinterhand herum. Yu hatte den Kopf gesenkt. Das silberhelle Vlies war gesträubt, sein merkwürdig graziler, elastischer Huf scharrte den Boden. Sein Schweif fegte die reglose Luft und klatschte dann wie ein Peitschenhieb gegen seine Flanke. Ein dumpfes Knurren, aber so, daß jedem das Blut zu Eis erstarren mußte, erschütterte seine mächtige Brust. Ich warf mich mit aller Kraft gegen den Yakbullen, packte ihn an einem Horn.
»Nein, Yu, nein!«
Xiao Dan versuchte gleichzeitig, sein Pferd zu beruhigen und das Gewehr im Anschlag zu halten. Der Rotbraune drehte sich wie rasend im Kreis. Seine Flanken waren mit Angstschweiß bedeckt.
»Gehen Sie! Schnell!« rief ich.
Xiana Dan nickte verstört, straffte die Zügel, drängte seinem Pferd die Fersen in die Flanken, wich langsam zurück. Die Herde mußte irgendwo in der Nähe grasen; aber die Drongs würden nicht angreifen, solange der Leitbulle nicht das Signal gab. Doch sie haßten den Geruch der Menschen, die Vorsicht gebot, nicht länger hier zu verweilen.
Einige Minuten später erreichte ich den Ort, wo ich Khan angebunden hatte. Dan wartete bereits auf mich. Ich band hastig das Pferd los, stieg in den Sattel. Wir ritten im schwingenden Trab; nichts war zu hören als das leise Klingeln des Halsputzes meines Rappens, das Geräusch der Hufe auf dem weichen Boden. Dan sagte: 288
»Ich habe große Angst um dich gehabt.«
»Um mich? Sie meinen, dieser Drong könnte mir Böses tun? Sie irren sich. Ich kann mit ihm machen, was ich will.«
Ich erzählte, wie Shelo und ich das Kälbchen gefunden und großgezogen hatten.
Ich sah Dan herausfordernd an.
» Yu gehorcht mir. Sie haben es ja gesehen. Wenn ich es wünsche, nimmt er Sie auf die Hörner! «
Sein Ausdruck veränderte sich kaum merklich; und doch zog über seine empfindsamen
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