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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Dach auf das andere und spielten Verstecken. Oder wir saßen auf den Mauern wie kleine Wächter, atmeten den Duft von den Weihrauchöfen ein und überblickten das Kommen und Gehen in den Gassen. Eines Tages, im Abendlicht, stieg ich über die Holzleiter in den zweiten Stock, wo wir die Vorräte lagerten. Die Strohmatten und Leinentücher unter dem Getreide erstickten meine Schritte. Gerade wollte ich über die nächste Leiter durch eine offene Falltür in den Wohnraum gelangen, als ich Shelo und Dan sprechen hörte. Ihre Stimmen klangen anders als sonst. Beunruhigt spähte ich durch die Falltür. Die schrägen Strahlen der Sonne brachen durch die schmalen Fenster, ließen Kupfer, Zinn, buntgestreifte Stoffe und honigbraunes Holz 291
    aufleuchten. Im purpurnen Licht bewegte sich Shelos Schatten an den Wänden. Bei starken Gefühlsregungen pflegte sie auf und ab zu gehen, wie Männer es manchmal tun. Dan stand neben der Feuerstelle, in der einige Kohlen glühten, und sah ihr zu. Plötzlich blieb Shelo vor ihm stehen und blickte ihm in die Augen.
    »Kannst du nichts tun?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nein. Ich nicht.«
    »Warum du nicht?«
    »Ich muß tun, was sie mir sagen«, erwiderte er mit seiner heiseren, sanften Stimme. »Ich kam hierher, um zu unterrichten. Ich bin an diesem Ort glücklich gewesen. Ich beklage mich nicht, Shelo. Es mußte so kommen.«
    »Was haben sie dir gesagt, Dan?«
    Er rieb sich müde die Stirn.
    »Ich hätte ohnehin nach Shanghai zurück gemußt. Ich habe Aussicht auf eine Stelle in einer Hochschule.«
    Ihre Augen funkelten ihn an. »Womit haben sie dir gedroht, Dan?
    Ich will es wissen!«
    Er preßte die Lippen zusammen und schwieg. Wieder wandte sie sich von ihm ab, durchmaß den Raum mit ihren geschmeidigen Pantherschritten. Sie trug ein violettes Mantelkleid, die aufgekrempelten Ärmel ließen das lila Seidenfutter sehen. Dan senkte den Kopf. In seinem schmalen Gesicht war kein Gefühl zu erkennen. Erneut blieb sie stehen, kehrte ihm jedoch den Rücken zu.
    Sie sprach leise.
    »Wann fährst du?«
    »Bei Tagesanbruch geht ein Konvoi nach Kangting. Sie holen Transportarbeiter. Man hat mir gesagt, daß ich mitfahren kann. Von da aus sehe ich weiter.«
    Sie stand still und nickte nur. Dans Blick verriet Schmerz, war jedoch ohne jede Auflehnung. Als er sprach, klang seine Stimme tonlos.
    »Es tut mir leid, Shelo. Wäre ich der Sohn eines Bauern oder Mechanikers, wäre für mich alles einfacher. Aber meine Eltern sind Buchhändler, im heutigen China ein gefährlicher Beruf… «
    Sie drehte sich nach ihm um. Die großen Bernsteinkugeln, eine über jedem Ohr, leuchteten in ihrem geflüchteten Haar.
    »Ich hab’ ja gesagt, ich bring die Wahrheit heraus! «
    In der Stille hörte ich ihn atmen. Dann sagte er dumpf: 292
    »Sie stehen im Verdacht, antirevolutionäre Schriften in Umlauf gebracht zu haben. Ich sagte Chen Wenyuan, auf Denunzianten sei kein Verlaß. Er gab mir sogar recht. Sie würden nur bestraft, meinte er, wenn die Schuld erwiesen ist. Aber es würde besser sein, wenn ich nicht in Tibet bliebe.«
    Meine Mutter antwortete ganz ruhig.
    »Das ist Erpressung.«
    »Es gibt noch andere Gründe.«
    »Nenn sie mir.«
    »Ich bin ein schlechtes Parteimitglied. Ein Reaktionär. Chen Wenyuan weiß als politischer Kommissar, was er mir zumuten kann und was nicht. Er glaubt, daß ich als Lehrer hier nicht geeignet bin.
    Letzten Ende sei es eine Frage der Berufung, der Begeisterungsfähigkeit und der persönlichen Überzeugung.«
    »Hat er das gesagt?«
    »Er mißtraut mir. Er verlangt Hingabe, und die bringe ich nicht auf. Ich wüßte nicht einmal, wofür ich kämpfen sollte. Für eine bessere Welt? Ich glaube nicht mehr daran. Die Welt kann nur schlechter werden. Ich jedoch habe – für eine kleine Weile nur – eine Welt voller Wunder und Harmonie erlebt. Und ich werde nie verleugnen können, was ich geliebt habe. Ich werde wohl dafür büßen müssen.«
    Er machte eine resignierte, traurige Handbewegung. Stille senkte sich nieder. Shelo stand dicht vor ihm, forschte lange in seinem Gesicht, bevor sie antwortete:
    »Ich bin eine Ngolog; in meinem Stamm teilen die Frauen mit mehr als nur einem Mann ihr Lager. Doch mein Los ist es, daß die Männer, an denen mein Herz hängt, mir genommen werden. Doch nimm dich in acht in deiner Heimat, sei doppelt vorsichtig. Du hast nichts zu verbergen, Dan. Aber deine Aufrichtigkeit wird dich in Gefahr bringen.«
    »Und du, Shelo? Was wird aus dir?«
    Die

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