Die Tibeterin
rötliche Sonne glitt über die steinerne Wand. Shelos Augen glitzerten. Sie sprach mit dem rauhen, schleppenden Klang der Schamanin in der Stimme.
»Der Tag ist vorbei, Dan. Was uns gegeben wurde, können wir nicht bewahren. Da wir in diesem Leben keine Erfüllung fanden, müssen wir auf das nächste hoffen. Und wenn wir uns noch einmal begegnen sollten, werden wir uns gewiß erkennen. Die Götter sind gerecht. Das wenigstens möchte ich glauben.«
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Er trat an sie heran, griff nach ihrem Arm.
»Atan wird traurig sein. Ich habe nicht den Mut, von ihm Abschied zu nehmen. Würdest du es für mich tun?«
»Ja. Und er wird es verstehen.«
»Sag ihm, er soll mich nicht vergessen.«
»Ich werde es ihm sagen. Leb wohl jetzt, mein Lieber. Du hast eine lange Reise vor dir.«
Mit diesen Worten legte sie ihm die Hand auf die Stirn, in der uralten Segensgebärde der Lamas. Ihre Armbänder klirrten leise. Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an das seine heran; ihre Lippen legten sich auf seine Lippen. Eine kurze Berührung nur, fast ein Hauch.
Dann löste sie sich von ihm, er wandte sich ab, ging mit schleppenden Schritten zur Tür. Ich empfand das Bedürfnis, mich an die Mauer zu lehnen und zu weinen; ich drückte den Kopf an die Wand, als wollte ich in den vertrauten Steinen auf eine geheime Stimme lauschen, die mich beruhigte. Doch keine Stimme war da, die mir Trost zusprach, nur die bestürzende, erschreckende Einsicht, daß ich ihn mehr geliebt hatte als sie. Ein Kind ist solchen Gefühlen gegenüber machtlos. Noch heute ist mir unklar, warum die Erinnerung an ihn in meinem Geist so lange haftenblieb. Noch Jahre danach plagte mich die Erinnerung, machte mir in manchen Augenblicken schwer zu schaffen.
Dann wurde die tibetische Schule geschlossen. Kelsang Jampa, unser guter Lehrer, war entlassen worden. Er sei alt, hieß es, und ruhebedürftig.
Das erste wirklich bedeutende Problem war die Ernährung. Die Chinesen mußten von der Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt werden. Sie bezahlten zwar dafür, aber die Preise stiegen natürlich, und wurden für die Tibeter unerschwinglich. Das war der Anfang großer Veränderungen. Die Chinesen verlangten von den Herdenbesitzern hohe Beträge in Naturalien. Eines Tages kam Chen Wenyuan zu meiner Mutter, um den Viehbestand zu zählen. Er erschien mit ein paar Männer in blauen Overalls, die sich Agro-Experten nannten. Chen Wenyuan schlug meiner Mutter vor, einer Vereinigung beizutreten, in der man sie mit modernen Wirtschaftsmethoden vertraut machen würde. Er gebe ihr diesen Rat, sagte er, weil sie als Frau über einen großen Viehbestand herrsche und die grobe Arbeit doch ziemlich schwer für sie sein müsse. Shelo erwiderte, Tibeterinnen seien durchaus in der Lage, sich um ihre Güter zu kümmern. Er müsse sie trotzdem bitten, zu den 294
Versammlungen zu kommen. Finanzen, Bildung, Landwirtschaft und Gesundheitswesen seien reformbedürftig und direkt dem neu gegründeten PCART (Preparatory Committee for the Autonomous Region of Tibet) unterstellt. Die politischen Funktionäre seien bereit, die lokalen Führer bei ihrer Verwaltungsarbeit zu beraten. Shelo begegnete ungerührt seinem Blick.
»Wir machen es wie unsere Vorfahren. Das ist gut für uns und soll auch so bleiben.«
Der Kommissar lächelte, bezog seine Begleiter in sein Lächeln mit ein. Alle nickten ihm zu, zeigten gleichzeitig und beflissen die Zähne. Doch als Chen Wenyuan sich erneut an Shelo wandte, war sein Lächeln verschwunden.
»Ein lebhafter Geist muß vieles erforschen. Es sind nur die Allerweisesten und die Dummen, die Selbstkritik ablehnen. Bald wird Tibet die beste Regierung der Welt haben. Wir alle stehen im Dienst eines großen Plans. Wir wollen euch helfen, gute Arbeit zu leisten.«
Sie hob höhnisch die schwarzen Brauen.
»Leiden wir Hunger? Oder Durst? Haben wir kein Dach über dem Kopf? Keine Kleider, die uns vor der Kälte schützen? Sind wir unwissend oder krank?«
Die Chinesen wurden unruhig. Einer hüstelte mit abgewandtem Gesicht. Chen Wenyuans Augen wurden schmal. Er schnitt ihr mit einer schroffen Geste das Wort ab. Shelo hob trotzig das Kinn. Eine Khammo läßt sich nicht über den Mund fahren.
»Genug. Wir brauchen keine Hilfe. Und auch keine Ratschläge.
Wir entscheiden selbst, was gut für uns ist was nicht. Haben Sie Geduld. Wir werden es Sie wissen lassen.«
Die Besucher verabschiedeten sich höflich und gingen. Shelo besuchte nicht die Versammlung und zahlte auch nicht
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