Die Tibeterin
keine Würmer in der Gerste suchen«, sagte Amla, wenn ich sie mit einer direkten Frage überfiel. »Sobald die Gerste verschimmelt ist, hat das keinen Sinn mehr.« Wenn ich darauf bestanden hätte, gewisse Dinge zu erfahren, hätte sie vielleicht Auskunft gegeben – aber da sie nichts sagen wollte, schwieg auch ich. Tibetische Kinder widersprechen den Eltern nicht. So blieb mir
– zumindest am Anfang – vieles verborgen. Was mich mit meinen Vorfahren verband, waren Sedimente in meiner Erinnerung – in Anbetracht der Umstände nichts oder kaum etwas. Immerhin ließ sich die Vergangenheit nachprüfen; ich wollte sie nicht als ein Stück 31
Legende sehen. Im Laufe der Zeit manövrierte ich mich in die Sache hinein. Und die Geschichte, die ich Jahre später Roman erzählte, war, von gewissen Einzelheiten abgesehen, ziemlich ausführlich.
Als Mitglied der tibetischen Oberschicht hatte mein Großvater Tsering Dorje Kelsang in Indien studiert und sprach fließend Englisch. In den dreißiger Jahren war er als Ingenieur maßgebend für den Straßenbau in Lhasa gewesen. Meine Großmutter Dechen war die Tochter eines Regierungsbeamten und hatte neun Kinder, von denen sechs überlebten. 1959 fielen die Chinesen in Tibet ein; es folgte die inzwischen sattsam bekannte Tragödie. Aber die Geschichte macht deutlich, daß die Chinesen am Anfang bestrebt waren, die herrschende Elite zu schonen. Die Privilegien sogenannter
»patriotischer« Familien, von denen man annahm, daß sie dem Regime nützlich sein konnten, blieben - jedenfalls teilweise – bis zur Kulturrevolution unangetastet. Als Ingenieur war Dorje Kelsang ein wichtiger Mann; seine reaktionäre Haltung nahm man in Kauf.
Während Tausende flüchteten, glaubten meine Großeltern, sich anpassen zu können. Die Chinesen bauten Schulen und Krankenhäuser. Sie beschlagnahmten einen Teil der landwirtschaftlichen Erträge, die sie an die benachteiligten Klassen verteilten – was an sich eine gute Sache war. Sie behaupteten, hohe Ansprüche an die Moral zu stellen. Das gefiel den Großeltern, weil sie feudalistisch dachten und das Prinzip der Tugendhaftigkeit als Weisheit ansahen. Wenn China tatsächlich ihrer Heimat aus Unwissenheit und Armut heraushalf, nun, dann wollten sie chinesisch lernen. Tashi, der älteste Sohn, wurde nach Peking geschickt, wo er Agrarwissenschaft studierte. Nach vier Jahren erreichte ihn ein Telegramm seiner Mutter: Tsering Dorje war von einem Gerüst gestürzt und lag mit einem Schädelbruch im Krankenhaus. Als Tashi in Lhasa eintraf, war der Vater bereits tot.
Nach der Trauerzeit arbeitete Tashi für die chinesische Regierung.
Ein paar Monate später heiratete er Gyala Tschodak. Gyala verwaltete damals das Gut, das sie als einziges überlebendes Kind beim Tod ihrer Eltern geerbt hatte. Die tibetischen Familiennamen stammen von den Gütern, und der Tschodak-Besitz lag bloß eine Tagesreise zu Pferd von Lhasa entfernt. Gyala kümmerte sich um die Gersten-, Weizen- und Erbsenernte, verbrachte viele Tage zu Pferd, um die Herden zu überwachen. Sie erledigte alle Papierarbeit, führte Buch über Ausgaben und Einnahmen, verglich, kalkulierte und sprach sich mit dem Verwalter ab, der bereits ihren Eltern gedient 32
hatte. Daneben war sie sehr großzügig, sorgte dafür, daß alle Bauern gut gekleidet waren und ausreichend Nahrung hatten, und daß ihre Kinder – wenn sie das Zeug dazu hatten – eine Schule besuchten. Sie war bei jedem Wetter draußen, stand den Leuten bei ihren Problemen mit Rat und Tat zur Seite. Das Getreide wurde gespeichert, das Tsampa – Gerstenmehl – in einer eigenen Mühle gemahlen. Das Senfsamenöl stammte aus der eigenen Presse. Gyala überwachte all diese Arbeiten. Sie studierte landwirtschaftliche Broschüren und Magazine, die sie in Indien bestellte, träumte von modernen Pflügen, von Traktoren und elektrischen Melkanlagen.
Gyalas erstes Kind, Tenzin, kam ein Jahr später zur Welt. Im Alter von drei Jahren wurde er als Wiedergeburt Chensal Tashis, eines berühmten Mönchgelehrten erkannt, der 1953 im Großkloster von Chamdo gestorben war. Ein wiederverkörperter Erwachter, wie wir diese Wesen nennen, heißt bei uns in Tibet Tulku. Wir hatten schon einige in der Familie.
Tenzins Labrang – so wird die Wohnstätte oder der Landbesitz einer hohen Inkarnation genannt – befand sich in der osttibetischen Provinz Kham. Fortan sollte der Junge nach den Regeln der Gelupga (der Gelbmützen, der reformierten Tradition
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