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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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die ihr aufgebürdete Geldstrafe. Die Chinesen unternahmen zunächst nichts gegen sie; wenn sie auf Widerstand stießen, zogen sie sich zurück und versuchten es später noch einmal.
    Niemand traute den Chinesen. Hinter ihrem Lächeln lauerten Gefahren. 1954 wurde allen Tibetern mitgeteilt, der Große Steuermann habe in seiner Weisheit beschlossen, die Landreform um sechs Jahre hinauszuschieben. Gleichzeitig wurde bekannt, daß die chinesische Nationalversammlung den jungen Dalai Lama mit seiner Gefolgschaft nach Beijing eingeladen hatte. Er sollte mehrere Monate bleiben und ganz China bereisen, um sein Wissen zu 295
    erweitern. Ich war sehr betroffen und fragte meine Mutter:
    »Werden die Chinesen Seine Heiligkeit töten?«
    Sie lächelte und strich über mein Haar.
    »Nein, Atan, da kannst du ganz beruhigt sein. Dein Vater ist ja bei ihm.«
    Ich war sofort wieder froh. Solange mein Vater Seine Heiligkeit schützte, konnte ihm nichts Böses zustoßen.
    Nachrichten drangen erst mit Verspätung nach Kham. Immerhin erfuhren wir, Mao Tse-Tung habe dem Dalai Lama versichert, keinerlei politische Macht in Tibet ausüben zu wollen. Industrie und Handel sollten ausgebaut, das bestehende System jedoch unangetastet bleiben. Die Bevölkerung glaubte der Propaganda. Die Khampa-Häuptlinge jedoch meinten, es würde alles weitergehen wie zuvor und schlimmer werden. Ihre ersten Angriffe auf chinesische Truppenverbände hatten bereits im Winter eingesetzt. In Bepla und im angrenzenden Königreich Mustang hatten sie Gewehre und Munition gekauft. Das Kriegsmaterial wurde auf Schleppschlitten über die vereisten Seen befördert. Andere Schlitten brachten Vorräte an Trockenfleisch, Tsampa, Salz und Zucker. Die Chinesen waren über diese Vorgänge beunruhigt. Von offizieller Seite hieß es, daß
    »vereinzelte Räuberbanden ihr Unwesen trieben«. Die Militärbehörden machten den Khampas Geschenke, um sie auf ihre Seite zu bringen. Die Häuptlinge setzten sie in Munition um. Noch blieben die Angriffe sporadisch. Man durfte nicht zu viel riskieren: der Dalai Lama war in Peking; die Chinesen konnten ihn als Geisel mißbrauchen.
    In diesem verhängnisvollen Jahr 1954 mehrten sich die bösen Zeichen. Im Juli verloren bei Überschwemmungen in der Stadt Gyantse mehr als zweitausend Menschen ihr Leben. Es war, von Erdbeben abgesehen, die größte Katastrophe in Tibet seit Menschengedenken. Viele glaubten, daß dieses Unheil nur hatte geschehen können, weil der Dalai Lama das Land verlassen hatte.
    Das Schicksal Seiner Heiligkeit beunruhigte das tibetische Volk, waren die Ränkespiele der Chinesen doch sattsam bekannt.
    Tatsächlich bemühte sich Mao Tse-Tung mit allen Mitteln der Verschlagenheit, Seine Heiligkeit für seine Pläne zu gewinnen. Doch die falschen Versprechungen und die Schmeicheleien Pekings glitten an ihm ab. Seine Friedfertigkeit, sein gesunder Verstand, seine Jugend letztlich, warnten ihn vor Schwätzern und Schwindlern. Mao und seine Ratgeber setzten die Waffen ihrer Arglist gegen ihn ein; er 296
    nahm sie sanftmütig auf und legte sie hinter sich auf den Boden. Die Chinesen konnten ihn weder blenden noch für ihre Zwecke mißbrauchen.
    Dieser ganz junge Mann – fast noch ein Kind – trug mehr Stärke in sich als alle Heerscharen kreischender Fanatiker. Aber das würde die Welt erst später erfahren.
    Der Frühling kam mit starken Regenfällen, Bergstürzen und Überschwemmungen. Die Leute waren froh und erleichtert, als Seine Heiligkeit im Mai 1955 nach einer langen, beschwerlichen Reise wohlbehalten aus China zurückkehrte. Ich jedoch, der Kindheit noch ganz nahe, war überzeugt, daß es mein Vater war, der ihn in dieser langen Zeit vor tausend Gefahren bewahrt hatte.
    Nach der Rückkehr Seiner Heiligkeit fanden in Lhasa mit großen Pomp die Feierlichkeiten anläßlich der Ernennung Tibets zum autonomen Gebiet statt. Die Chinesen streckten die Hand nach der Macht aus und pflückten sie wie eine reife Frucht. Die Götter in ihren Tempeln blickten grimmig oder milde lächelnd auf die rechtlose tibetische Regierung, die - offiziell – Seiner Heiligkeit und dem 10. Panchen Lama unterstand. Aber die Politik wurde von einer Kommission beschlossen, der kein einziger Tibeter angehörte. Seine Heiligkeit war lediglich dem Namen nach Präsident; in Wirklichkeit waren ihm die Hände gebunden.
    In Lithang – wie in den meisten Städten – lag die Verwaltung in den Händen der Chinesen. Viele Soldaten hatten in der Klosterstadt

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