Die Tibeterin
Garnison bezogen. Im Bazar begegnete man Scharen hochnäsiger Beamte mit ihren Familien, die raffgierig, laut und zutiefst gelangweilt ihr Geld ausgaben. Aber wir sahen auch Chinesen in Lumpen, die an der Straße arbeiteten; man sagte uns, es seien Mitglieder des Kuomintang, die ihre Strafe verbüßten. Oft brachten ihnen Tibeterinnen etwas zu essen oder warme Kleider, aber die Wachsoldaten beschimpften sie und schickten sie weg. Die scheinbar gelassene Stimmung im Land war die Ruhe vor dem Sturm.
Zwischen Chinesen und Tibetern klaffte ein Abgrund, den kein erbaulicher Spruch aus Maos roter Fibel überbrücken konnte. Die Chinesen begannen, die Tibeter gegeneinander aufzuwiegeln. Sie bezahlten Bauern, damit sie ihre Lehnsherren beschuldigten.
Menschen, die für schmutzige Dienste Geld nehmen, gibt es überall.
Verleumdung ist einer sehr menschliche Schwäche. Die Thamzig -
Volksgerichte – breiteten sich aus, wurden ständig brutaler.
Tatsachen, Phantasien und Antipathien tobten sich dort aus. Die 297
Chinesen verlasen eine endlose Liste von Verbrechen, die die Angeklagten – Ladeninhaber, Viehbesitzer oder Adlige - begangen haben sollten. Die Tibeter lauschten fassungslos dem Rachegeschrei.
Die Chinesen hatten mit der Kompromißbereitschaft und Friedfertigkeit der Tibeter gerechnet; nicht mit dem hitzigen Blut der Steppenreiter.
In der Tat herrschte auf chinesischer Seite ein katastrophales Unwissen über das Wesen und die Kriegsführung der Khampas. Und das zu einer Zeit, da fünfzigtausend berittene Kämpfer ihre Jurten und Burgen bereits verlassen hatten. Die Khampas stellten raffinierte Fallen. Ihre Pferde schlurften auf unbeschlagenen Hufen durch die Nacht, den Verbindungsstraßen entgegen, auf denen die Truppenverbände entlangzogen. Das Dunkel der Nacht, das Rasseln der Armeefahrzeuge erstickte die leisen und undeutlichen Eindrücke, die das Heranrücken der Reiter begleitete: das leise Klirren von Metall, das gelegentliche Aufschimmern eines Säbels oder eines Gewehrlaufes. Und wenn das hämmernde Stakkato der heranstürmenden Hufe aus der Stille wuchs, war es für die Chinesen schon zu spät. Die Khampas tauchten aus Schluchten empor, rasten Steinhänge hinab, deren Gefälle eigentlich ein vorsichtiges Schrittempo erfordert hätte. Doch ihre Pferde hatten – wie man sagte
– Augen unter den Hufen. Nicht immer gelang der Überfall; oft war das Blei schneller als die Reiter. Prasselnde Granaten zerstückelten Männer und Pferde und tränkten die Erde mit Blut. Aber die Chinesen wußten nie, wann die Reiter wieder zuschlagen würden, welche Falle sie als nächste bereithielten. Das bewirkte, daß immer neue Truppenverbände als Verstärkung über die Grenze kamen. Die Khampas wüteten schrecklich im Nahkampf. Und wenn sie keine Patronen mehr hatten, schwangen sie den Säbel. Viele Soldaten starben an Ort und Stelle oder wurden, gräßlich verstümmelt, ins Lazarett nach Lhasa gebracht. Schließlich sah sich die 18.
chinesische Armee gezwungen, sich aus der Provinz Kham zurückzuziehen. Doch der Kampf hatte gerade erst begonnen.
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36. Kapitel
N ach dem Abrücken der Volksarmee hatten alle chinesischen Beamten Kham überstürzt verlassen. Daraufhin hatte Khangsar, der Abt des Klosters von Lithang, als ranghöchster Mönchsbeamter die Distriktverwaltung übernommen. Nach dem Ultimatum der Chinesen, sämtliche Waffen abzuliefern, berief er eine Ratssitzung ein. Die verschiedenen Lager waren mehr als drei oder fünf Tagesritte entfernt; doch die Reiter aus Lithang sprengten über die vereiste Erde, gaben die Nachricht von Mund zu Mund. Khangsas hatte auch die Führer der einzelnen Clans in den Ratsaal gebeten.
Nach unserer Tradition kommt ein Junge mit dreizehn Jahren – wenn er ein Pferd zu lenken vermag – in das Alter, wo er in die Geschäfte der Erwachsenen eingeführt wird. Mir fehlten ganze fünf Monate –
ich zählte sie verbissen und wütend an den Fingern ab. Meine Mutter überraschte mich dabei. Rasch verbarg ich die Hände hinter meinem Rücken. Shelo betrachtete mich nachdenklich: »Nun, Atan? Warum bist du zornig?«
Ich blieb stumm, sie las in meinem Gesicht und sagte: »Wenn du älter bist, mußt du dein Handwerk kennen, und zu früh ist besser als zu spät. Wer weiß, wieviel Zeit dir noch bleibt? Wasch dich, zieh dein bestes Kleid an und komm!« So betrat ich hinter meiner Mutter den Versammlungssaal. Durch die Fenster leuchtete die fahle Wintersonne auf die braunroten
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