Die Tibeterin
Aufstand breitete sich aus wie ein Buschfeuer. Jeder Stamm bildete eine unabhängige Streitmacht, mit ihren eigenen Häuptlingen an der Spitze. Gleichzeitig traten auch die Mönche in den Krieg. Sie hatten sich zwar dem Studium der Religion zugewandt, doch in ihrem Blut hatte sich durch Generationen der Kampfgeist der Steppenreiter vererbt. So holten die Mönche die Waffen aus ihren Verstecken hervor. Der Kampf würde einen hohen Blutzoll verlangen, das wußte jeder. Der Krieg mit Korea war beendet; die Sowjetunion unterstützte die chinesische Volksarmee, verkaufte ihr die Mig 15 und die Iljuschin 28. Dazu kamen Panzerfahrzeuge und Lastwagen, um die Truppenverbände nach Tibet zu befördern. Auch waren die Chinesen aus Schaden klug geworden: sie schickten keine Halbwüchsigen mehr, sondern hartgesottene Truppen und kampferprobte Offiziere.
Ganz Osttibet griff zu den Waffen. Rapgya Pangda Tsang hatte seine Verbindungen spielen lassen: Flugzeuge aus Tai-Wan warfen mit Fallschirmen amerikanische Waffen und Radioempfänger im Kampfgebiet ab. Aber gleichzeitig erfuhren wir von den Vergeltungsschlägen der Chinesen, von den Brandbomben, den Angriffen der gefürchteten Iljuschin 28. In den Militärberichten hieß es nach ein paar Monaten, der Aufstand sei niedergeschlagen und die Rebellen auf der Flucht, in Wirklichkeit flackerte der Aufstand noch fünfzehn Jahre lang, immer wieder sporadisch. Ich weiß es, weil ich dabei war und das tat, was mir Rapgya aufgetragen hatte – ich kämpfte. Die Belagerung von Lithang war meine Feuerprobe, und seitdem war es mein Schicksal, immer in der heißesten Glut zu stehen.
Rapgya organisierte mit Hilfe seines ältesten Bruders Yampel den Waffenhandel vom indischen Kalimpong aus. Der dritte Bruder, Topgyal, war in Tibet geblieben und überwachte die Karawanen, die die Waffen nach Kham beförderten. Die Lieferungen waren stark vom Wetter abhängig. Monsunregen und Schneefälle behinderten das Vorrücken der Karawanen. Die Waffen trafen oft erst mit großer Verspätung ein. Inzwischen war Chinas südliche Grenze mit Truppen besetzt. Die Volksarmee setzte ihre Iljuschin 28 ein, bombardierte die Stützpunkte der Rebellen.
In Lithang war alles ruhig. Shelo ging wie stets ihren Aufgaben 304
nach. Doch in ihrem Wesen machte sich eine Veränderung bemerkbar, die mich beunruhigte. Abends, wenn sie an der Feuerstelle saß, schien sie durch die Flammen auf ferne Orte und Dinge zu schauen.
Eines Abends schickte meine Mutter die Dienstboten weg. Sie entzündete Feuer in einer Räucherschale und warf Rinden in die Glut. Als der Rauch hochstieg, rieb sie ihre Schläfen und Handgelenke mit Kräuterbalsam ein. Ich kauerte neben ihr und fühlte, wie der süß-herbe Duft auch mich berauschte. Mein Mund wurde trocken, und mein Atem ging schwer. Nach einer Weile öffnete Shelo einen kleinen Beutel und schüttelte eine Anzahl kleiner beschnitzter Knochen verschiedener Tiere auf ein weißes Tuch. Nur sehr selten und bei wichtigen Anlässen befragte meine Mutter das Orakel der Knochen. Diese waren von unterschiedlicher Form und Größe und verkörperten die Ahnen. Der Große Knochen – das Schulterblatt eines Damhirsches – stellte die äußeren Einflüsse dar: Stillstand, Veränderung, Geburt, Tod. Shelo begrüßte jeden Knochen mit seinem besonderen Namen und bat ihn um Beistand.
»Führungsknochen, befähige mich, deine Absichten zu kennen.
Weiblicher Knochen, sage mir, was erzählt und erlebt wurde.
Männlicher Knochen, erwecke in mir das Wissen. Großer Knochen, hilf mir, den Zweck meiner Geburt zu erfüllen.«
Als die Rinde glühte, legte Shelo behutsam die Knochen in die Räucherschale und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die züngelnden Flammen. Bald sprühten Funken auf, kleine Risse sprangen in die Knochen. Shelo verharrte in tiefem Schweigen, bis das Feuer verglühte, und auch ich saß vollkommen still. Dann wickelte Shelo das Tuch um ihre Hände und nahm die Knochen aus der Asche. Es nahm geraume Zeit in Anspruch, bis sie die Markierung gedeutet hatte. Schließlich seufzte sie tief und legte die Hand an den Kopf. Ihr Schweigen währte so lange, daß ich es nicht mehr aushielt.
»Amla, was sagen die Knochen?«
Sie fuhr leicht zusammen.
»Sie bringen mir Grüße von den Geistern. Lange Zeit waren sie fern. Jetzt sind sie wieder da und lehren mich die alten Lieder. Sie wollen, daß ich singe, um die Kämpfer zu stärken.«
Die Feder eines Nachtvogels schien mich kalt zu streifen.
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