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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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mit steigender Unruhe. Sie schlief kaum noch. Nachts wanderte sie durch die Gänge, murmelte leise vor sich hin. Manchmal traten junge Novizen aus einer Tür, schwankend, frierend, mit erschrockenen Kinderaugen. Shelo nickte ihnen zu, freundlich und ernst, als ob sie ein großes Geheimnis mit ihnen teilte. Sie ging weiter wie eine Schlafwandlerin; ich folgte ihr stumm, mit umgehängtem Köcher, den Bogen in der Hand. Ich fühlte das Wunder, das sie bewirkte. Im Heiligtum kauerten die Lamas vor den dunklen Nischen der Statuen.
    Ihre Gewänder waren zerfetzt, starr vor Schmutz, ihre verkrusteten Lippen flüsterten die heiligen Worte. Keine Butterlampe brannte, kein Feuerbecken glühte. Shelo ging von Statue zu Statue, sprach heimlich mit jeder. Der bronzene Matreya schien einen eigenen schwachen Schimmer auszustrahlen. Shelo verharrte lange vor ihm, flehte um Segen, preßte die Stirn gegen den vergoldeten Sockel. Ihre Augen flackerten, ihre blutleeren Lippen waren fein gekräuselt wie 315
    dünnes Seidenpapier. An ihrem Hals schlug der Puls ungleichmäßig und stürmisch. Sie bewegte unentwegt die Hände, hob sie manchmal zum Mund, stöhnte leise. Sie sah Dinge, die ich nicht sah. Ich sah nur das eisige Dunkel, atmete die Gerüche von Schweiß, Fieber und kaltem Weihrauch ein. Über finstere Steintreppen und hölzerne Leitern gelangten wir nach draußen auf die Terrasse. Kalte Luft schlug uns entgegen. Hinter den Zinnen ragten die Ruinen der Wachttürme empor. Das Dach war zugeschneit, an einem Bärenschädel hingen dicke Eiszapfen. Ich sah, wie meine Mutter sich in der Dunkelheit bewegte. Und wieder sang sie, Nacht für Nacht, immer wieder; und bald war es, als ob die Belagerer selbst auf diesen Gesang warteten, ihn nahezu herbeisehnten. Jedesmal, wenn der Wind ihren Gesang durch die Luft trug, wurde es im Lager der Chinesen still. Es war die Stille, die hörbar wird, wenn die Schlagworte schweigen und die Gefühle erwachen. Und einmal schrie ein chinesischer Soldat laut und verzweifelt auf; sein heftiges Schluchzen wurde von zornigen Zurechtweisungen unterbrochen.
    Die Offiziere bemerkten die Gefahr. Irgendwie mußten sie diese Stimme zum Schweigen bringen. Sie versuchten, den Gesang mit Musik und Sprechchören zu übertönen, grölten Schmährufe und Propagandareden durch Mikrofone und Lautsprecher. Sie hatten Shelo mit dem Feldstecher entdeckt, richteten ihre Scheinwerfer auf sie. Lichtkegel tasteten die Ruinen ab. Die Gewehre knatterten. Oft schlugen Kugeln dicht neben Shelo in die Wand, so daß sie von Splittern getroffen wurde. Shelo beachtete sie nicht, sie schien unverwundbar. Die Khampas schossen nur selten zurück, denn sie hatten kaum noch Patronen und warteten, bis es Tag wurde, um ihre Ziele besser zu treffen. Tenpa Rimpoche brachte sie in sein Gemach, bettete sie auf sein Lager, deckte sie mit Fellen zu. Ich legte mich zu ihr, wärmte sie mit meinem Atem, und für ein paar Stunden schlief sie dann.
    Die chinesischen Soldaten waren gut genährt und ausgeruht. Was ihnen fehlte, war die Tatenfreude. Das Zeichen zum Angriff wurde gegeben. Die Volksarmee hatte geglaubt, leichtes Spiel zu haben; die Ernüchterung war umso brutaler. Die Khampas kämpften mit Bajonett, Dolch und Säbel, wie sie es seit Jahrhunderten taten. Sie erbeuteten jede Waffe, rissen den Chinesen die warmen Kleider vom Leib, die Mützen, die Stiefel. Der Durchbruchversuch mißglückte, die Volksarmee zog sich zurück. Die Sonne ging unter, wieder wurde es Nacht. Die Waffen schwiegen. Im chinesischen Lager 316
    herrschte Bestürzung. Hatte die nächtliche Stimme, die Stimme aus den Jenseits das Blut der Belagerten verjüngt? Hoch oben, im Schatten der Zinnen, wanderte Shelo mit ruhelosen Schritten. Jede Nacht sang sie kraftvoller und strahlender. Ihre Stimme, vom Glanz des Himmels magisch angezogen, hallte in der Ferne wider. Doch in der letzten Nacht, als der Mond wie blaues Eis funkelte, taumelte Shelo; ihre Stimme erstarb in einem Röcheln. Ihre tastenden Hände griffen nach ihrer Kehle, und ein Blutfaden rann aus ihrem Mund.
    Sie fiel, die Hände ausgestreckt, auf die Knie. Bevor ich sie halten konnte, schlug sie auf den Boden, und der Schnee um sie herum färbte sich rot. Ich dachte, sie sei von einer Kugel getroffen worden, schrie laut um Hilfe. Dann erschien Tenpa Rimpoche, gab mit leiser Stimme Anweisungen. Zwei Mönche hoben Shelo auf, trugen sie vorsichtig die Leitern hinunter, durch düstere Hallen und winklige Gänge. Shelo

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