Die Tibeterin
kurze Stille ein, kreischten die Chinesen durch ihre Lautsprecher. Sie brüllten, wenn wir uns nicht ergäben, würden weder Greise noch Säuglinge die Stadt lebend verlassen. Die Khampas antworteten mit einem Kugelregen; einige hatten sich ganz nahe an die chinesischen Stellungen geschlichen und zielten sehr genau. Oft sah man im Licht der Scheinwerfer, wie unten die Toten fortgetragen wurden.
Die Nacht ging vorüber, und wieder ein Tag und dann nochmals eine Nacht. Schneewirbel peitschten über die Stadt, eiskalte Winde heulten in den Gassen. Und immer wieder ließen Geschosse die Mauern erzittern. Aber die Schäden blieben erstaunlich gering; die jahrhundertealten Befestigungsmauern hatten schon mehrere Erdbeben überdauert. Erst allmählich rissen die Geschosse Lücken in die Festung, spalteten die Wachttürme, durchzogen das Mauerwerk mit tiefen Rissen. Schutt und blutgefärbter Schneeschlamm bedeckten Höfe und Gassen.
Nach einer Woche hatten die Chinesen die Klosterstadt völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Immer wieder versuchten sie, die Festung einzunehmen, durch den Bleihagel der Khampas hügelaufwärts zu stürmen. Die Verteidiger kämpften um jeden Fußbreit Boden, in Granatlöchern, auf Trümmerhaufen, zwischen Mauerresten. Jedesmal, wenn ein Khampa fiel, nahm ein anderer seinen Platz ein. Die Volksarmee schaff - te neue Geschütze und Munition heran, Lastwagen brachten Verstärkungstruppen, aber jeder Angriff brach unter der Abwehr der Khampas zusammen. Die Kommunisten wichen zurück, verloren die Nerven. So ging es nicht.
Immerhin hatten sie bemerkt, daß das Feuer der Belagerten nachließ; also mußten die Khampas bereits mit der Munition sparen.
Schneestürme fegten über die Hochsteppe, die Soldaten waren von den Nahkämpfen erschöpft, viele krank, schwerverwundet und nicht mehr zu gebrauchen. Die Klosterstadt konnte nicht im Sturm genommen werden; man würde sie noch über Wochen hin Stück für Stück zusammenschießen müssen. Lithang war umzingelt, die Lebensmittel fehlten, der Brennholzvorrat wurde knapp. Es würde nichts schaden, ein paar Drohungen auszusprechen. Also wurde ein Abgesandter geschickt. Der Abt erklärte sich bereit. In Begleitung von acht finster blickenden Wachoffizieren ging Chen Wenyuan durch verwüstete Straßen, an brandgeschwärzten Ruinen vorbei.
Kein Krieger zeigte sich. Vor dem Haupttor standen regungslos 312
bewaffnete Mönche. Chen Wenyuan und seine Begleiter traten in den Innenhof. Sie wanderten durch verlassene Gänge, an eingestürzten Säulen vorbei. Das Kloster glich einer Höhle, beklemmend und leer, vom düsteren Schneelicht gespenstisch erleuchtet.
Als das einfache Volk erfuhr, daß Khangsar das letzte Ultimatum abgelehnt hatte, brach Panik aus. Viele Menschen versuchten, die Stadt zu verlassen. Doch sie kamen nicht weit: Kaum erschienen sie vor den Toren, eröffneten die Chinesen das Feuer. Die Menge flutete schreiend zurück. Granaten prasselten gezielt in das Gewimmel.
Hunderte starben.
Ich jedoch traf niemanden, denn mein Gewehr funktionierte nicht.
Ich schnitt mir einen Bogen und Pfeile zurecht. Shelo half mir dabei, nähte mir einen Köcher und Handgelenkschützer aus Leder. Der Bogen aus Birkenholz war stark und genau meiner Größe angepaßt.
Shelo hielt die Pfeilspitzen in heiße Glut, damit sich die Fasern zusammenzogen und härteten. Ich war stolz, daß ich wieder eine Waffe hatte. Gerade noch rechtzeitig: Ein paar Tage später gab es keinen Baum und keinen Strauch mehr in Lithang. Man zerhackte die Möbel, die dichten Holzläden, brach Balken aus den Mauern, um Brennholz zu gewinnen. Es war die Zeit, da die Mönche die Lautsprecher der Chinesen mit den Klostertrommeln übertönten und die Krieger Beleidigungen über die Schanzen schrien; es war die Zeit, da die Festung rief, sang und betete, als ob die Wände selbst eine Stimme hätten. Doch eines Tages verstummten die Stimmen; nur noch die Trommeln schlugen. Das Volk schwieg. Die Kräfte waren gebrochen. Einige Vorräte befanden sich noch im Kloster, doch sie wurden von Tag zu Tag weniger. In Lithang lebte kein einziges Tier mehr. Alle waren geschlachtet und verzehrt worden.
Die Verwundeten konnten nicht gepflegt werden. Tagelang weinten die Kinder vor Hunger. Die Brunnen waren zugefroren, jeden Morgen mußte der frische Eispanzer zerschlagen werden. Um das Wasser zu schmelzen, brauchte man das letzte kostbare Brennholz.
Dann lutschte man Eis. Man konnte die Brunnen nicht
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