Die Tibeterin
röchelte. Ihr schwarzes Haar schleifte über den nassen Boden.
»Ist sie verletzt?« schluchzte ich. »Wird sie sterben?«
Tenpa Rimpoche umfaßte meine Schultern.
»Nein, Kind. Beruhige dich!«
Hinter den schmalen Fenstern zeigte sich der erste Streifen der Dämmerung. Die Mönche brachten Shelo in Onkel Tenpas Gemach, betteten sie auf sein Lager. Jeder Atemzug schien ihre Brust zu sprengen. Tenpa Rimpoche nahm einen Krug, füllte einen Becher bis zum Rand mit Wasser aus dem Brunnen. Ich richtete Shelo auf, hielt ihr den Becher an die Lippen. Sie trank in gierigen Zügen, dann öffnete sie die Augen, sah mich an und versuchte zu sprechen. Nur ein gurgelndes Röcheln drang aus ihrer Kehle. Ihr Gesicht war so fahl wie der dämmernde Wintermorgen. Stöhnend sank sie zurück.
Tenpa Rimpoche nahm mir behutsam den Becher aus der Hand. Ich starrte ihn an.
»Onkel, was… was ist mit ihr?«
Ich sah im Dämmerlicht seine geröteten Augen. Sein Gesicht war lederbraun und fast ohne Fleisch.
»Kind, ihre Stimmbänder sind gerissen. Sie wird jetzt für lange Zeit verstummen.«
»Wird sie wieder sprechen können?«
Tenpas Stimme war nur ein heiseres Flüstern.
»Eines Tages… wenn das Schicksal es will. Aber die Stimme, die du dann hören wirst, wird eine andere sein… «
Ich starrte ihn an, sah die Tränenspur auf seinen gefurchten 317
Wangen. Shelo klammerte sich mit beiden Händen an die Felldecke.
Ihr Atem rasselte, sie zitterte zunehmend stärker. Ich fühlte das Fieber in ihrem Körper. Ich legte mich dicht neben sie, schlang beide Arme um sie. Draußen wurde es heller und heller. Bald ging die Sonne auf. Es war der 63. Tag der Belagerung. Raubvögel kreisten über der Klosterburg und lauerten auf ihren Fall.
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40. Kapitel
I n der perlmutfarbenen Helle der Morgenfrühe hörte ich im Schlaf ein dumpfes, fernes Grollen, ein unheimliches, drohendes Brummen.
Das Brummen kam näher, wurde lauter, ohrenbetäubend. Irgendwie wußte ich, daß es kein Traum war, wollte mich aber nicht damit abfinden. »Wach auf! Geh fort von hier!« Es war die Stimme meiner Mutter, die nicht mehr sprechen konnte. Ihre Stimme bohrte sich in mein Bewußtsein, mit jedem Atemzug. »Steh auf! Worauf wartest du noch?« Und in dem Augenblick, da ich unter größter Anstrengung erwachte, schlug das Dröhnen wie ein Blitz ein. Ich fuhr im panischem Entsetzen hoch, starrte in Shelos weit aufgerissene Augen. Ihre Hände, die mich wachgerüttelt hatten, halfen mir aufzustehen. Wir wankten zum Fenster, spähten nach draußen. Der Innenhof war voller Menschen, die alle nach oben schauten. Die Burg erzitterte, von den Wänden bröckelte Mörtel. Das Dröhnen ging in gellendes Pfeifen über. Da erschütterte ein Donnerschlag die Burg. Welt und Himmel zerbarsten in Scherben. Die Explosion riß die schreienden Menschen zu Boden. Blut spritzte auf. Tote und Verletzte lagen wie verstreute Kleiderbündel in den Trümmern.
Rauch drang in den kleinen Raum, in dem wir standen und nach Luft rangen. Shelo gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß wir fliehen mußten. Ich schlang hastig den kleinen Köcher um, griff aus Gewohnheit nach dem Bogen, der mir so nutzlos wie ein Spielzeug vorkam. Shelo packte meine Hand, zerrte mich nach draußen.
Mönche und Novizen hatten alles gepackt, was ihnen in die Hände fiel, um sich zu verteidigen. Ihr Geschrei widerhallte in den Gängen, ihre rennenden Füße verursachten ein ununterbrochenes Getrappel.
Wir stolperten im Gedränge die Stufen hinab, rannten durch rußgeschwärzte Räume und verschachtelte Innenhöfe. Eine zweite, noch heftigere Explosion ließ die Burg erzittern. Rauch und Staub hüllten das Kloster ein. Ein paarmal klammerte sich Shelo an mir fest, hustete sich fast die Lunge aus dem Leib. Die Volksarmee hatte ihre Lektion gelernt. Die Belagerung war Zeitverschwendung gewesen. Die Flugzeuge leisteten bessere Arbeit. Wir wurden mit der modernen Kriegsführung konfrontiert, mit der Zerstörung auf Knopfdruck. Wir hatten Säbel, Gewehre und türkisgeschmückte Dolche. Aber weder Flak- noch Sperrfeuer. Der Tempel mit seinem vergoldeten Dach stand noch; nur etwas Staub rieselte aus den 319
Steinvorsprüngen. Frauen, Kinder und alte Menschen suchten dort Zuflucht, stießen und drängten in wilder Hast vorwärts. Schluchzen, Wimmern und Klagen erfüllte die Luft. Und plötzlich donnerte ein schrilles Pfeifen heran, ein gigantischer Schatten raste über den Hof.
Shelo warf beide Arme um mich. Ich
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