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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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desinfizieren.
    Die Menschen erkrankten an Ruhr. Eine Möglichkeit, den Kranken zu helfen, gab es nicht; es waren zu viele. Medikamente waren nicht mehr da. Kinder und alte Leute starben zuerst. Man verscharrte sie im Schnee, um den Verwesungsgeruch zu bekämpfen. In dieser Zeit sah ich den Tod, überall sah ich ihn; die Toten lagen im Lazarett, in den Trümmern ihrer Häuser. Ich war wie gebannt, und trotzdem 313
    brachte ich es nicht fertig davonzulaufen. Es gibt ein Geheimnis der Toten; nur der Schmerz kann es ahnen. Doch wem genügt ein Geheimnis?
    Die Chinesen warteten. Sie hatten in diesem Spiel die besseren Karten. Noch wehrten sich die Belagerten mit dem Mut der Verzweiflung, glaubten aber nicht mehr, daß sie siegen würden. Die frierenden, ausgehungerten Menschen waren nur noch die Schatten ihrer selbst. Aber eine belagerte Stadt führt ein zähes Eigenleben, das am Widerstand wächst. Aus der Tiefe der Verzweiflung wachsen in den Menschen neue Kräfte. Tag und Nacht nahmen die Belagerten das Kloster unter Beschuß, Tag und Nacht pochten im Heiligtum die Trommeln, machtvoll und stetig wie ein Herz, das einen verwundeten Körper am Leben erhält. Die Mönche lösten einander an den Trommeln ab; wenn einer vor Erschöpfung zu Boden sank, packte der Nächste den Schlegel. Aber eines Tages schwieg auch die Trommel; die Kräfte versagten, das mächtige Herz war verstummt.
    Lithang war die Stelle, an der sich das Leben Tibets ausblutete.
    Nichts half über die furchtbare Erschöpfung hinweg. Doch in der folgenden Nacht, als die Sterne wie Fackeln glühten, trat eine Frau auf die höchste Terrasse des Kosters. Die vergoldeten Reliquienschreine der heiligen Lamas waren zerbröckelt, ihre Asche in alle Winde verstreut. Aufrecht in ihren schmutzigen Kleidern, das aufgelöste Haar mit Türkisen geschmückt, legte Shelo ihre abgemagerte Hand auf die Steine. Die Nacht war windstill, die verschneiten Berge schimmerten wie Kristall. In den Feldküchen der Chinesen brannte Feuer; das Licht der Karbidlampen zog entlang den Zelten eine helle Bahn durch die Nacht. Die Chinesen wärmten sich an den Flammen, saßen vor großen Kesseln; ihre Stimmen, ihre Musik waren deutlich zu hören. Sie benutzten alle Lautsprecher, um Propaganda für die Revolution zu machen. Die Verwundeten hatte man nach Lhasa gebracht, frische Truppenverbände waren eingetroffen. Shelos eingefallene Züge leuchteten im Sternenlicht.
    Die Abmagerung enthüllte den Adel ihres Gesichtes, die Ruhe und den Stolz der Züge. Eine Weile wanderte sie auf und ab, bewegte ruhelos die Arme, als sammle sie etwas ein, was ich nicht sehen konnte und das sie an sich zog. Auf einmal holte sie tief Luft, öffnete die Lippen. Und die Stimme, die sich in den Himmel schwang, war nicht mehr die Stimme einer Frau; sie war nicht einmal die Stimme eines einzelnen Menschen. In ihrem Gesang vibrierte der Gong, schrillten die Flöten, schlug golden und dunkel die Laute. In Shelos 314
    Stimme sangen die Geister der Toten, der Gefallenen, der Ahnen, die uns in den schweren Stunden großer Prüfungen zur Seite stehen.
    Shelo stand mit zurückgelehntem Kopf. Ihre Augen, groß und leuchtend, starrten ins Leere; sie sang in die Unendlichkeit hinein. In der Ferne kam Wind auf, kreiste über die Berge, fegte in mächtigen Wellen über die Steppe. Getragen von magischen Kräften warf Shelo ihren Gesang dem Wind entgegen; und der Wind trug ihn auf seinen Flügeln empor zu den Wolken. Sie waren die Stimme aller, die da sterben würden und deren Herzen vor Schluchzen nicht sprechen konnten. Und die Menschen von Lithang, frierend, bis auf die Knochen abgemagert, hörten tief in ihrem Blut die Stimmen der Totengeister. »Wir kommen!« rief Shelo. Und die Geister sprachen:
    »Wir sind da!«
    In allen Höfen, in allen Gassen, wurden Schritte hörbar. Ein Mönch schlug mit neuerwachter Kraft die Trommel, ein anderer blies das Muschelhorn. Die Frauen zählten die Patronen, die Männer schärften ihre Säbel. Die Menschen im Bannkreis ihrer Furcht entwuchsen dem Schweigen, fanden zusammen zu jener eigentümlichen Gemeinschaft, die ein geteiltes Schicksal erzeugt.
    Lithang stand vor dem Ende der Welt, und die Menschen erlebten es mit dem abgründigen, geheimnisvollen Stolz derer, die sich als letzte fühlen unter den Sternen.
    Und so geschah es fortan jede Nacht. Und jede Nacht verlängerte sich unser Leben, unser aller Leben, um einen weiteren Tag. Doch die Zwiesprache mit den Geistern erfüllte Shelo

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