Die Tibeterin
seinen Daumen mit Tinte geschwärzt und die Umrisse einer menschlichen Gestalt daraufgezeichnet. Das im Wind flatternde Blatt wurde in der Hofmitte ausgebreitet und festgehalten. Die Trommeln dröhnten stärker, während alle Tänzer unter der Führung des furchterregenden Dämonenkönigs viermal das Papier umkreisten.
Sie luden damit alle Übel des vergangenen Jahres auf die 309
gezeichnete Gestalt ab.
Inzwischen war ein großes Feuer unter der Ringmauer entfacht.
Zwei Novizen brachten einen riesigen Kochkessel voller Öl heran.
Vom Wind geschürt, hüpften und züngelten die Flammen höher. Die Zuschauer duckten sich lachend und wichen zurück, um sich vor den Hitzewellen zu schützen. Als das Öl kochte, ergriffen die maskierten Novizen das Papier, falteten es zusammen und stopften es in den Kessel, wo es sich zischend und prasselnd zusammenkrümmte. Nun erschien ein älterer Mönch; er hielt in beiden Händen eine Schädelschale. Der Schädel, Sitz des menschlichen Geistes, symbolisiert gleichzeitig das Himmelsgewölbe. Aus dieser Schädelschale goß der Mönch Alkohol in das brodelnde Öl. Ein Zischen, eine wirbelnde Flammengarbe: In dunklen Schwaden stieg der Rauch auf. Die Menschen schrien fröhlich auf. Nun war es soweit! Alles Übel des Jahres war vernichtet. Eine kleine Pause entstand, bevor die Musiker erneut ihre Instrumente ansetzten, denn nun würden die Tiermasken einen besonderen Tanz aufführen, der für Wohlstand und Fruchtbarkeit im Neuen Jahr bürgen sollte. Doch soweit kam es nicht.
Ganz plötzlich senkte sich Schweigen über die Zuschauer. Und in diesem Schweigen geschah es. Ich spürte den Riß, die Trennung. Im Bruchteil eines Atemzuges starb meine unbeschwerte Kindheit, barsten Himmel und Erde. Die Explosion fegte Steinblöcke, Mörtel, Blutspritzer und zerfetzte Gliedmaßen über den Platz. Genau dort, wo einige Minuten zuvor die Glücksflammen das Böse vernichtet hatten, klaffte nun ein riesiges Loch in der Mauer. Schwarzer Qualm wälzte sich hindurch. Die Belagerung Lithangs hatte begonnen. Sie würde 64 Tage dauern.
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39. Kapitel
D ie Wächter hatten Alarm geblasen, aber zu spät. Das Fest sollte ein Tag der Tränen werden. Unbemerkt, im Schutz der Dunkelheit, hatte die Volksarmee die Stadt umzingelt. Sämtliche Bewohner von Lithang und Tausende von Auswärtigen waren in der Stadt gefangen.
Eine wunderbare Falle, großartig angelegt, und sie sprang erwartungsgemäß zu. Von allen Seiten rumpelten Lastwagenkolonnen heran; die Soldaten sprangen aus den Fahrzeugen, geduckte Gestalten, bis an die Zähne bewaffnet. Andere Soldaten bezogen Position in dem steilen Felsengestade außerhalb der Stadt. Wieder andere schafften Artillerie und Munition in die kleinen Häuser rund um den Basar und in den Ruinen der »alten Stadt«, die das Erdbeben von 1950 zerstört hatte. Inzwischen feuerten die Panzer ohne Unterlaß: Jede Explosion löste Steinblöcke, wirbelte Schutt und Erdmassen auf. Den Befehlsschreien folgte in Sekundenschnelle das Rattern der Maschinengewehre. Kreischende Menschen stoben nach allen Seiten davon. Die Verwundeten schrien, während ihre Angehörigen sie forttrugen. Kaum landete ein Geschoß, da krachte schon das nächste. Jeder Schuß löste neue Panik aus, hinterließ Tote und Verletzte. Novizen stolperten die Treppen hinauf und hinunter, andere schlugen die Trommel oder bliesen die Muschelhörner, um die Götter um Beistand anzuflehen.
Auch meine Mutter hatte ihr Gewehr bei sich und zusätzlich auch eines für mich. Sie gab mir Patronen und den Rat, mit der Munition sparsam umzugehen.
Gegen Abend sank die Temperatur. Die Kälte biß mit eisigen Zähnen in unsere Haut. Die drohenden Wolken im Norden verkündeten Schnee. Unser Haus befand sich im unteren Stadteil, am Südhang. Doch der Weg dahin war uns abgeschnitten. Hunderte von Menschen konnten das Kloster nicht verlassen. Die Strahlen der Scheinwerfer beleuchteten die Stadt, so daß es hell war wie am Tag und doppelt so gefährlich, weil sich jeder Schatten am Boden abzeichnete. Wir machten uns Sorgen um die Dienstboten, die geblieben waren, um das Haus zu bewachen. Zum Glück befanden sich die Herden hinter den chinesischen Linien. Die Hirten würden die Tiere aus dem Gehege lassen und sie zu den fernen Weiden treiben, wo sie eine Chance hatten, zu überleben.
So verging diese erste Nacht in bitterer Kälte. Die Mönche teilten 311
warmes Essen und Tee aus. Fast pausenlos donnerten die Geschosse.
Trat eine
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