Die Tibeterin
Mitgefühl und Ruhe, als schmelze und verbrenne in ihm die Substanz des Schmerzes.
Kleine Funken umflogen ihn wie Glühwürmchen, und jeder Funke war ein Gebet. Er war der Buddha der Zukunft, jener, der über der Welt mit ihren Menschen schwebt, diesem Schlund der Hölle mit ihren giftigen Nebeln. Er wartet; seine Stunde ist noch nicht gekommen. Vielleicht in tausend Menschenaltern wird er sein Haus über den Wolken verlassen und Einzug in unsere Herzen halten. Mir aber hatte er sich in jener Nacht gezeigt, leuchtend wie ein Wesen aus Gold. Und solange Atem in mir ist, bewahre ich dieses Bild in mir. Ich habe einen schweren Weg zurückgelegt; und nicht immer war mein Pfad gerade; das Blut, das an meinen Händen klebt, kann 323
ich nicht reinwaschen. Ich wandere durch eine Welt schwarzer Schatten, von Dämonen bevölkert. Wir sind eine widerliche Gattung.
Eigentlich möchte ich wissen, warum Buddha uns hilft.
Ich kämpfte gegen die Müdigkeit an, die mich lähmte. Ich hatte etwas zu tun… etwas Wichtiges. Wie lange lag ich schon so da? Ich bemerkte, daß der Mond eine große Strecke gewandert war.
Erinnerungsfetzen wirbelten durch mein leeres Gehirn, und dann kehrte schlagartig mein Bewußtsein zurück. Ich sah wieder, wie die Soldaten Shelo aus ihrem Versteck zerrten, sie mit Kolbenschläge und Fußtritten malträtierten. So qualvoll war das Bild, daß ich nur noch Schmerzen spürte. Ich mußte Shelo retten. Ich war überzeugt, daß ich sie befreien konnte, wenn ich es nur schlau genug anstellte.
Doch zuerst mußte ich Kraft sammeln. Viel Kraft. Ich schloß fest die Augen und dachte an Yu. Bald war mir, als erfülle sein Bild alle Winkel meines Bewußtseins. Als ich ihn ganz deutlich sah, pfiff ich leise zwischen den Zähnen und erbat seine Hilfe. Yu war mein Schutzgeist. Wo immer er auch sein mochte, er würde mich hören; ich glaubte es felsenfest. Ich war ein Naturgeschöpf, einfältig vielleicht, aber Autosuggestion vermag eine Menge zu bewirken.
Die Anstrengung hatte mich erschöpft; mein Kopf tat mir entsetzlich weh. Ich wartete darauf, daß es besser wurde, bevor ich weiter überlegte. Ohne Waffen keine Rettung. Ich konnte Steine werfen; Steine gab es genug. Doch hatte ich kaum mehr die Kraft dazu. Der Dolch fiel mir ein. Shelo hatte einen Dolch gehabt.
Schweißgebadet kroch ich am Boden herum und tastete das Geröll ab. Plötzlich schlossen sich meine Finger um einen Metallgriff. Eine beruhigende Wärme stieg in meinen Arm hinauf. Sie schien von dem Messer auszugehen, das so leicht in meiner rechten Hand lag. Gut.
Ich steckte die Klinge in den Gürtel. Was noch? Ich hatte einen Bogen gehabt. Aber was war mit den Pfeilen? Ich rutschte auf den Knien im Kreis herum und suchte. Den Bogen bekam ich bald zu fassen; er war etwas verdreht, aber noch zu gebrauchen. Ich tastete nach dem Köcher, fand ihn. Zwei Pfeile waren zerbrochen, der dritte wie durch ein Wunder unversehrt. Ich hängte den Köcher um, legte den Bogen über meine Schulter. Taumelnd kam ich auf die Füße. Ich fühlte mich grauenhaft. Ich hätte alles gegeben für einen Schluck Wasser, für etwas heißen Tee, der mir den salzigen Geschmack von der Zunge gespült hatte. Schwerfällig stapfte ich durch die Ruinen.
Hier und dort regte sich noch ein Funke Leben, ein fast unhörbares Atmen. Ich stapfte weiter, mein einziger Gedanke war Shelo. Ich 324
dachte an nichts anderes als an ihre Rettung. In den Ruinen war alles still, gespenstisch still; nur in der Ferne hörte ich Stimmen und Gelächter, und diesen Geräuschen wanderte ich entgegen. Von dem, was ich in jener Nacht sah, ist mir nicht mehr viel in Erinnerung, und ich kann nur froh darüber sein. Ich sah keine Bilder mehr, sondern verschwommene Alpträume. Diese Alpträume sind es, die vierzig Jahre lang den Haß in mir schürten. Dazu kamen die Einzelheiten, die ich später erfuhr. Khangsar hatte man die Füße mit Ketten zusammengebunden, die Hände mit Stacheldraht an eine Stange gefesselt. Mit einer anderen Kette erdrosselte man ihn, obgleich die Überlebenden von Lithang um Gnade für ihn flehten, und die Mönche sich den Chinesen zu Füßen warfen, um statt seiner zu sterben. Tenpa Rimpoche nagelte man auf ein Brett, stellte es auf und feuerte durch seine Brust. Alle Clanführer, die in die Hände der Chinesen fielen, wurden nackt aufgehängt und mit glühenden Eisenstangen gefoltert. Man hielt sie tagelang am Leben. Die Soldaten strichen Salben auf die Wunden, damit sie schnell
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