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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zuheilten und schmerzvoll wieder aufrissen.
    Der sinkende Mond stand schräg über den Bergen, als ich mich der Ringmauer näherte. Stimmen und Gelächter waren jetzt ganz nahe.
    Scheinwerfer erleuchteten die Nacht. Im Helldunkel erklomm ich die Böschung, spähte auf die andere Seite. Die Chinesen hatten ihre roten Banner aufgepflanzt. Sie feierten ihren Sieg. Warum war ich so sicher, daß Shelo noch lebte? Ich kann es bis heute nicht sagen. Die wenigen Bewohner von Lithang, die das Millitär verschont hatte, waren auf einem Feld unter der Mauer zusammengetrieben worden.
    Sie kauerten hinter einem Stacheldraht, ausgehungert und schlotternd vor Kälte. Die zerlumpten Gestalten wurden von Soldaten mit Maschinenpistolen bewacht. Ich hörte das Wimmern der Säuglinge, das Schluchzen der Frauen, die sich die Chinesen zu ihrem Vergnügen genommen hatten. Manchmal schrie ein Verwundeter auf. Und trotzdem fühlte ich Erleichterung: Wenigstens wußte ich jetzt, wohin sie Shelo gebracht hatten. Ich war nicht so dumm zu glauben, ich könnte die Wachtposten überlisten. Aber auf irgendeine Weise wollte ich meine Mutter wissen lassen, daß ich in der Nähe war. Ohne nachzudenken schob ich zwei Finger in den Mund und pfiff den hohen, schrillen Ton, mit dem ich Yu zu rufen pflegte.
    Shelo würde das Signal unter Tausenden erkennen. Es war schrecklich leichtsinnig von mir, aber so weit dachte ich nicht.
    Ruckartig drehten sich die Wachen in meine Richtung, brachten ihre 325
    Waffen in Anschlag. Ein erregter Wortwechsel folgte. Mit rasendem Herzen duckte ich mich in den Schatten. Jede Sekunde dehnte sich zur Ewigkeit. Nach einer Weile bewegte ich mich vorsichtig und spähte über die Mauer. Die Wachsoldaten wanderten am Stacheldraht auf und ab, argwöhnisch, aber nicht übermäßig beunruhigt. Sie mochten denken, daß ein Vogel geschrien hatte.
    Geduckt lief ich die Mauer entlang. Die Scheinwerfer brannten grell in meinen Augen, dafür war ich fast unsichtbar. Knaben haben eine sehr relative Vorstellung von Gefahren, aber ich wußte zu gut Bescheid, als daß ich mich – so dunkel es auch sein mochte – an der Horizontlinie gezeigt hätte. Denn keine Nacht ist so schwarz wie ein Körper, der plötzlich vor dem Hintergrund des Himmels auftaucht.
    Als ich unter der Mauer entlangkroch, fuhr der Wind in meine Bogensehne: sie summte leise, wie eine Mücke. Unvermittelt überfiel mich die Erinnerung, die ich die ganze Zeit in mir getragen hatte. Eine klare Stimme sagte mir ins Ohr: »Du wirst nur einen einzigen Pfeil haben, und der muß treffen.« Es war die Stimme meiner Mutter gewesen, als sie das Orakel der Knochen verkündet hatte. Ich zog mich an der Mauer empor. Das war leicht, weil die Chinesen eine große Anzahl Steine aus dem Zement gebrochen hatten, um ihre Schanzen zu stützen. Am Rand zog sich Maschendraht entlang, der aber einen entschlossenen Kletterer nicht abzuhalten vermochte. Flach auf dem Bauch liegend, spähte ich hinab. Vor mir lag das Lager der Offiziere; dahinter – etwas höher gelegen auf der anderen Seite – standen die Zelte. Hinter den Zeltwänden schimmerte Licht, bewegten sich Schatten.
    Angetrunkene Stimmen grölten. In ihren von Karbidlampen erhellten Unterkünften hatten die Herren zufriedenstellend gespeist und getrunken und waren nun in einem Zustand lärmender Zufriedenheit.
    Das Areal war nicht mit Maschendraht eingegrenzt. Jede Minute zählte. Ich vertraute wohl darauf, daß nichts und niemand mich würde aufhalten können. Doch bevor ich von der Mauer glitt, spähte und lauschte ich ein letztes Mal. In diesem Augenblick schlüpfte ein Mann aus einem Zelt. Ich hielt den Atem an. Der Mann ging schwankend ein paar Schritte. Ein Lichtschein fiel auf sein Gesicht, und ich erkannte ihn. Ich hörte mein Herz schlagen, und ein Zittern durchlief mich von Kopf bis Fuß. Chen Wenyuan stand still, atmete schnell und kurz. Mir war, als sei ich losgelöst von dieser Erde, allein im Dunkeln mit einer Bestie in Menschengestalt. Er räusperte sich, spuckte kräftig aus und wandte sich um. Das Gesicht 326
    verschwand in der Dunkelheit, wurde unsichtbar, ohne daß ich dabei Erleichterung empfand. Nur meine angespannten Muskeln lockerten sich ein wenig. Vorsichtig sah ich auf, schnappte leise nach Luft.
    Rühr dich nicht. Warte, bis er weg ist… Haßerfüllt folgte ich ihm mit den Augen. Doch Chen Wenyuan ging nicht sofort in das Zelt zurück, sondern stapfte ein paar Schritte weiter zu einer Lichtung, auf der

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