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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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würden sie noch mehr blutende Menschen im Staub liegen sehen, ehe sie erwachsen wurden. Ich sagte: »Weg von hier! « und half dem Mann auf die Beine. Er war blaß, hatte Blutergüsse an der Stirn. Die kleinen Mädchen hielten sich schluchzend an ihm fest. So kamen wir nicht vorwärts. Ich warf dem Mann ein Gewehr zu, hob beide Mädchen hoch, jedes auf einen Arm. Wir rannten los, aber nicht schnell genug. Der Mann taumelte und hielt sich den Kopf, und ich mußte auf die Kleinen achten.
    Hinter uns näherte sich Lärm mit einer Geschwindigkeit, die mich ängstigte. Einer der verletzten Rotgardisten hatte Alarm geschlagen.
    Ich sah eine angelehnte Tür, die zu einem Innenhof führte. Solche Höfe hatten manchmal Dachtreppen, wie damals unsere Häuser in Lithang. Ich stieß die Tür auf. Im Hof häufte sich Schutt. Das geplünderte Haus war unbewohnt. Eine steile Treppe führte nach oben. Wir hatten die Chance eines Kaninchens in einem Gebüsch voller Füchse, aber es gab keine Wahl. Ich stellte die Kinder auf den Boden und sagte: »Hier hinauf! « Sie kletterten mühelos empor, während ich dem Vater half. Oben warfen wir uns flach auf den Bauch. Ich prüfte das Magazin und hielt das Gewehr im Anschlag.
    Die kleinen Mädchen gaben keinen Laut von sich; das Gebrüll auf der Straße sprengte uns beinahe die Ohren. Einige bange Minuten vergingen. Von der Straße drang noch immer der Lärm, doch jetzt aus größerer Entfernung. Ich ging vorsichtig die Treppe hinunter und spähte durch die Tür. Auf der Straße wirbelte der Staub, doch es war alles ruhig. Die Rotgardisten hatten ihre Verletzten fortgeschafft. Ich winkte mit dem Karabiner. Der Vater und die Kinder stolperten die Treppe herunter. Ich nahm dem Mann das Gewehr ab; er konnte 360
    nichts damit anfangen. Er blickte mich an, steif und hilflos. Stockend erzählte er mir, daß die Rotgardisten die Kinder mit einer Süßigkeit angelockt hatten. Die kleinen Mädchen hatten »bitte« und »danke«
    gesagt, was verboten war, und ihren Vater somit als Reaktionär entlarvt.
    »Die Rotgardisten drohten mir, die Kinder wegzunehmen, weil ich sie im alten Denken erziehe.«
    Er wischte sich den Staub aus den geröteten Augen.
    »Ich danke Ihnen«, setzte er bewegt hinzu.
    »Ein gefährliches Wort heutzutage«, brummte ich. »Sie sollten es lieber vergessen.«
    Wir tauschen ein unfrohes Lächeln. Seine Stirn war blau angeschwollen. Er starrte mich unentwegt an. Mir fielen seine Augen mit den sehr großen, etwas verschwommenen Pupille auf.
    »Wer sind sie?« fragte er.
    »Nur ein Reiter«, entgegnete ich.
    Er nickte, er hatte verstanden. Ich sagte:
    »Gehen Sie, schnell! Und es wird besser sein, wenn Sie sich eine Zeitlang nicht in der Stadt blicken lassen.«
    Die beiden Kinder klammerten sich an die Hände des Vaters. Sie sahen einander so ähnlich, daß man sie kaum unterscheiden konnte.
    Ich lächelte sie an.
    »Es war gut, daß ihr euch gewehrt habt. Das, was man von euch verlangte, war schlecht. Ihr müßt eure Eltern lieben, niemals die Partei.«
    Sie nickten beide gleichzeitig, mit großen, verwirrten Augen. Ich öffnete die Tür einen Spalt breit und gab dem Mann ein Zeichen.
    Unsere Blicke trafen sich; er flüsterte einen Segenspruch und schlüpfte mit den Kindern an mir vorbei. Die Mädchen drehten sich immer wieder nach mir um. Ich hielt den Finger am Abzug. Erst als sie außer Sichtweite waren, versteckte ich die Karabiner hinter einem Balken. In der Nacht würde ich kommen, um sie zu holen. Ich hatte dem Vater und seinen Kinder geholfen. Aber die Sache war ohne Bedeutung für mich, und eine Stunde später hatte ich sie vergessen.
    Und wie steht es mit dir, Tara? Erinnerst du dich jetzt?«
    Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Atans Schilderung weckte verschütterte Empfindungen in mir; längs vergessene Bilder gelangten zurück in mein Bewußtsein. Ich hörte Geschrei, sah drohende Gesichter; konfuse Erinnerungen, von denen ich zunächst nicht wußte, hatte ich sie erlebt oder erträumt.
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    Ich rieb mir die Schultern. »Ja, ich entsinne mich. Aber nur ganz schwach. Irgendwie weiß ich noch, daß Chodonla und ich ganz entsetzliche Angst hatten. Man hat uns in ein zerstörtes Haus getragen. Wir mußten eine Treppe hinaufklettern, und Vaters Gesicht blutete.«
    Ich starrte ihn fassungslos an.
    »Wie kommt es nur, daß ich dich nicht erkannte habe?«
    Er zeigte ein flüchtiges Grinsen.
    »Wie solltest du? Ich war als Maoist verkleidet! «
    Ich lächelte auch, aber

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