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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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geschah.
    Diese Angst, sie ist nicht auszuhalten! «
    »Ich weiß.«
    »Sag mir, daß du es tun wirst. Sag es mir bitte! «
    Ich strich liebkosend über ihr Haar. Es knisterte leise unter meinen Fingern. Sie starrte mich an, mit der gleichen unentwegten Angst im Gesicht. Ich atmete den Geruch ihres Puders ein, den Geruch ihrer Schlaflosigkeit, den Geruch anderer Männer. Und gleichzeitig empfand ich den Geschmack ihrer Lippen, ihres ganzen warmen und verwundeten Fleisches. Ich nahm sie in die Arme und wiegte sie, wie man es bei kleinen Kindern tut, wenn man sie trösten will.
    »Ich werde es tun. Ich verspreche es dir.«
    Ihr keuchender Atem verlangsamte sich. Sie ließ den Kopf an meine Schulter sinken, begann unzusammenhängende Worte zu stammeln, die ich gar nicht erst zu verstehen versuchte. Ich legte ihren Kopf auf das Kissen, deckte sie zu, schützte sie vor der kalten Luft.
    »Schlaf jetzt!«
    Im Halbschatten sah ich, wie ihre Augen und ihr Mund glücklich lächelten. Ihre Lippen bewegten sich an meiner Wange.
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    »Jetzt kann ich schlafen …«, murmelte sie. »Jetzt kann ich endlich schlafen… «
    Wir lagen Gesicht an Gesicht. Ich liebte sie sehr, so unerträglich maß- und grenzenlos, daß ich nichts fand, wie ich es hätte ausdrücken können. Ich betete, daß ihre Gedanken an sich und an Kunsang von Friede und Ruhe erfüllt sein mochten und nie mehr von Angst. Ich betete, daß alles, was man ihr angetan hatte, aus ihrem Geist verschwand wie ein böser Traum. Das war mein Gebet. Ich wußte kein anderes.
    »Ich bin für dich da«, sagte ich leise, »das weißt du doch.«
    »Du bist da, Atan.«
    Sie lag zitternd und schmal in meinen Armen, wiederholte die Worte, fast schlafend und tief erschöpft vor Müdigkeit, Erleichterung und Schmerz. Ihre Lippen rochen nach Fieber, und ihre Wangen unterhalb der dunklen Wimpern waren gerötet. In ihrem Gesicht war Ruhe, aber kein Trost. Und mit einem Mal wußte ich, daß sie sterben würde; ich wußte es so sicher, als ob sie es mir jetzt gesagt hätte. Das Wissen ließ mich erbeben, mein Herz bäumte sich auf, mein ganzer Körper krümmte sich vor Verzweiflung. Der verblassende Mond, das erste goldene Frühlicht über Berge und Steppe, die Begeisterung des Vogels, der singt und der Klarheit des Morgens Flügel verleiht, sie würde es niemals erleben. So sehr ich sie liebte, ich konnte sie nicht retten. Sie ruhte an meinem Herzen, schon tief in der kalten Erde eingebettet, mit mir.
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50. Kapitel

    »N achdem ich Chodonla versprochen hatte, für Kunsang zu sorgen, wurde sie ruhiger«, sagte Atan. »Und gleichzeitig ergab sie sich ganz ihrem Geschick; es war, als ob sich ihre Lebensfäden mit einem Schlag gelockert hatten. Ihre Krankheit nahm einen unerbittlichen Lauf, sie suchte nicht, den Strom einzudämmen oder gegen ihn anzukämpfen. Es war, als ob sie sagen wollte: »Es ist aus mit mir, vorbei.« Manchmal war sie ganz in Schweigen versunken und dann wieder von einer ungewohnten, aufgedrehten Fröhlichkeit.
    Ihr Husten war der schrecklichste Klang, den ich in dieser Zeit hörte, ich fühle noch immer den Widerhall in meinem Herzen. An ihrem Hals oberhalb des hohen chinesischen Kragens schlug ihr Puls ungleichmäßig und stürmisch. Sie spuckte hellrotes Blut, versuchte es vor mir zu verbergen. Zu Kunsang sagte sie, es käme vom Zahnweh. Ich sah die Kleine selten, weil ich Chodonla meistens nachts besuchte. Doch ein paar Mal war sie noch wach gewesen.
    Chodonla hatte Kunsang gesagt, daß ich ein Verwandter war. Ich kam aus einem für sie fernen Land, aus Kham. Das interessierte sie.
    »Wie bist du gekommen, Onkel? Mit einem Lastwagen?«
    »Nein, mit einem Pferd.«
    »Kann ich es sehen?« rief sie lebhaft.
    Ich sagte zu ihr:
    »Würdest du gerne mal auf einem Pferd reiten?«
    Sie nickte begeistert. Nichts gefiele ihr besser. Ich erzählte ihr, daß meine Mutter in ihrem Alter jedes Pferd, auch das wildeste, furchtlos geritten hatte. Kunsang lauschte mit leuchtenden Augen. Und beim nächsten Mal, als ich kam, gab sie mir eine Zeichnung.
    »Für dich, Atan!«
    Die Zeichnung zeigte ein Mädchen auf einem Pferd. Das Pferd war dunkelbraun; das Mädchen trug ein rotes Kleid und ein Kopfband mit Türkisen. Im Hintergrund waren Schneeberge zu sehen, und über ihnen schien die Sonne. Meine Kehle wurde eng. Sun Li hatte Kunsang Malpapier und Buntstifte mitgebracht, die in Lhasa Mangelwaren waren. Und durch ihn, durch Sun Li, war in Kunsangs kindlicher Phantasie meine Mutter

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