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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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kleine Trommel rührte. Ich holte tief Luft, versuchte meinen Atem in die Gewalt zu bekommen. Ein paar Sekunden vergingen. Zuerst Stille, dann schlurfende Schritte. Dicht hinter der Tür wurde eine Frage gemurmelt. Atan gab keine Antwort, klopfte nur mit dem Fingerknöchel. Ein Rascheln, die Tür öffnete sich einen Spalt, mit quietschendem Geräusch. Im schummrigen Licht, das aus dem mit Zeitungen verklebten Fenster fiel, stand eine kleine Frau mit dunklem Gesicht. Das dünne Haar war zu Zöpfen geflochten, ihr Kleid war geflickt, die gestreifte Wollschürze farblos vom vielen Waschen. Sie sah Atan vor sich im Treppenhaus stehen.
    Ihre Augen trübten sich; ein leichtes Stöhnen entrang sich ihr, ein Aufschluchzen fast. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Da glitt ihr Blick an ihm vorbei, richtete sich auf mich. Ein Ausdruck fassungsloser Panik erfaßte ihr Gesicht. Ihr Mund zitterte in einem verzweifelten Versuch, etwas herauszuschreien. Doch nur eine Art ersticktes Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Sie taumelte zurück, die Hand auf den Mund, als hätte sie ein Gespenst erblickt. Atan fing sie auf, als die Knie unter ihr nachgaben. Schlaff wie eine Stoffpuppe, die Augen verdreht, hing sie in seinen Armen. Ich hielt ihren Kopf.
    »Rasch, aufs Bett! Öffne das Fenster!«
    Er tat, was ich sagte. Ich lockerte ihre Tschuba, fühlte ihren Puls.
    Meine Ähnlichkeit mit Chodonla mußte wie ein Schock auf sie gewirkt haben. Der kühle Luftzug aus dem Fenster brachte die Frau wieder zu sich. Sie stöhnte, griff sich mit beiden Händen an den Hals. Ich bat Atan um Wasser. Er füllte ein Glas. Ich stützte sie, hielt ihr das Glas an die Lippen. Sie trank, hustete, verschluckte sich. Das Wasser lief ihr über das Kinn. Als das Glas geleert war, lehnte sie 430
    sich an den sie haltenden Arm und schlug die Augen auf. Sie starrte mich an, wimmerte leise vor sich hin. Ich wagte sie kaum zu umarmen, aus lauter Angst, ihr die Knochen zu brechen. Sie war so entsetzlich dünn. Ich lächelte ihr zu.
    »Beruhigen Sie sich, Ani Wangmo. Es tut mir leid, daß wir Sie erschreckt haben. Ich bin Tara, Chodonlas Schwester.«
    Sie zitterte zunehmend stärker. Mir war klar, daß sie nicht nach Worten suchte, sondern daß es einfach eine Weile dauerte, bis sie wieder zu sich kam. Sie stammelte:
    »Ich… dachte… sie sei wieder da!«
    Ich strich ihr das Haar aus der feuchtklebrigen Stirn.
    »Wir sind Zwillinge, deswegen. Ich bin Ärztin und arbeite in Nepal. Ich habe in Europa studiert. Hat sie nie von mir gesprochen?«
    Sie drückte ihre Handflächen gegen die Schläfen. Heftiges Schluchzen schüttelte sie. Selbst ihre Kleider zitterten mit ihr.
    »Sie ist tot«, stieß sie hervor.
    Ein Motorrad rollte in den Innenhof; unvermittelt krachte der Lärm an mein Trommelfell. Dann Schweigen. Der Fahrer hatte den Motor abgestellt. Ich sah zu Atan empor. Sein Gesicht war steinern. Kein Sterbender konnte blasser sein.
    Ich sprach als erste, wie im Traum.
    »Tot? Das kann nicht sein.«
    Leise schluchzend schmiegte sie den Kopf an meine Schulter.
    Nach einer Weile hörte ich Atans Stimme, rauh und dumpf wie die eines Fremden.
    »War sie in Haft?«
    Ani Wangmo tastete nach meiner Hand und preßte sie, als ob ich sie vor dem Ertrinken retten müßte. Die Berührung schien ihr Kraft zu geben.
    »Nein. Aber sie hatte Angst.«
    »Weshalb?« fragte Atan.
    Ani Wangmo sprach altes Tibetisch, mit überholten Höflichkeitsformen, die jedem Wort eine feierliche, inhaltsschwere Betonung gaben. Nicht einmal bei meinen Eltern waren solche Redewendungen im Gebrauch.
    »Das wollte sie nicht sagen, Herr. Eines Nachts kam sie sehr erregt nach Hause. Sie hatte hohes Fieber. Sie weckte die Kleine und zog sie an. Ich sollte sofort mit ihr die Wohnung verlassen. Mitten in der Nacht, und in eisiger Kälte! »Geh irgendwohin, weg«, sagte sie.
    »Aber wohin?« Sie rieb sich die Stirn. Sie war sehr erregt. »In unser 431
    altes Zimmer. Hast du noch Geld?«
    Sie zog die Schachtel unter dem Bett hervor. Das Geld sei für Kunsang, sagte sie. Aber ich sollte davon nehmen, wenn ich brauchte. Und ich sollte auf euch warten, Herr. Ihr würdet kommen und Kunsang ins Ausland bringen. Zu der Kleinen sagte sie: »Du gehst jetzt ein paar Tage nicht zur Schule. Warte noch, ich habe etwas Schönes für dich!« und gab ihr die Korallenkette. Dann versuchte sie, ihren Trauring zu tragen, doch abgemagert, wie sie war, glitt er ihr ständig vom Finger. Daraufhin gab sie ihn mir; ich solle ihn

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