Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
du mir sagst, was das zu bedeuten hat, wäre ich erleichtert.«
    »Wirst du dich damit zufrieden geben?«
    Die jungen Mönche schulen ihren Verstand in der Chora - im Debattierhof. Sie lernen dort mit Worten umzugehen. Jeder Begriff bringt unweigerlich eine weitere Verwendung, eine zusätzliche Bedeutung. Auf diese Weise schärfen sie ihre Einsicht, steuern ihre Gedankenschiffe geschickt an geistigen Klippen vorbei.
    Ich gab mich geschlagen.
    52
    »Ich glaube nicht.«
    Sein Lächeln war beruhigend.
    »Gut. Sehen wir uns das mal an. In jedem Menschen verläuft ein Riß – ein Spalt zwischen Unbewußtem und Vernunft. >Das Unheimliche< hat Sigmund Freud diesen Bereich benannt. Durch ihn sickern Erinnerungen, Bilder, Gefühle. Wir wissen nicht, woher sie kommen; sie rühren an unser tiefstes, ursprüngliches Leben. Ihr seid Zwillinge, mit dem gleichen Denkvermögen. Die Trennung ist wie eine Mauer auf einem Weg. Aber Gedanken überwinden jedes Hindernis. Das meine ich.«
    Ich spürte ein Prickeln unter der Kopfhaut. Zwischen uns war ein Flattern wie von unsichtbaren Vögeln. Tenzin füllte die Stille mit einem Lächeln.
    »Wir sind bis zu einem gewissen Grad objektiv, möchten über uns selbst genau Bescheid wissen. Du fühlst dich unausgefüllt und willst es nicht wahrhaben. Was tust du? Du erschaffst dir Bilder. Chodonla verkörpert dein Bedürfnis nach Weiterentwicklung. Sie leitet in dir einen Meditationsprozeß ein.«
    »Wenn ich dich richtig verstehe, bin ich mit meinem Leben nicht zufrieden.«
    »Auch mit deiner Arbeit nicht.«
    »Weißt du was?« sagte ich. »Du solltest das Mönchsleben aufgeben, eine Privatpraxis eröffnen und als Analytiker das große Geld machen.«
    Er verschluckte sich vor Lachen, wobei er sich auf die Schenkel schlug. Ich staunte immer wieder, daß der Gelehrte und der fröhliche Junge in seinem Herzen so dicht beieinander wohnten.
    »Großartig! Das wäre genau das richtige für mich!«
    Ich lachte auch, aber weniger heftig als er.
    »Ohne Frage, ich habe oft das Gefühl, daß ich es besser machen könnte.«
    Tenzin wischte sich Teetropfen von der Mönchsrobe.
    »Vielleicht bist du lediglich am falschen Ort?«
    Ich erzählte ihm von meinem Nachdenken über die tibetische Heilkunst. Daß ich dabei die Schulmedizin verließ, um mit Spekulationen zu jonglieren, sah ich mit hellwachen Augen.
    »Ich glaube, ich habe die Wahl. Ich will nicht Gefangene einer Kultur, einer Wissenschaft sein. Ich möchte vielen Dingen auf den Grund gehen. Um das Leiden anderer zu lindern, sollte man selbst im Gleichgewicht sein. Ich bin nicht im Gleichgewicht. Mir fehlt 53
    etwas.«
    Er ließ mich nicht aus den Augen.
    »Chodonla?«
    »Ja, Chodonla auch. Ich war nie unvernünftig, emotional. Aber ich will wissen, was aus meiner Schwester geworden ist. Und gleichzeitig etwas über tibetische Medizin lernen. Kürzlich sah ich alte Briefe durch. Als Onkel Thubten vor acht Jahren starb, schrieb Karma, daß sie bei einem Arzt in die Lehre gehen würde.«
    Er nickte.
    »Ja, ich entsinne mich.«
    »Vielleicht wäre das auch etwas für mich.«
    »Du mußt tun, was du fühlst«, sagte er.
    »Ich weiß nicht, was ich fühle.«
    Er stand auf, trat vor das Fenster, reckte seinen großen, schlanken Körper. Dann wandte er sich um, schenkte mir sein schönes, warmherziges Lächeln.
    »Wer mit einem Kiesel spricht, sollte nicht zuviel reden und nicht zuviel nachdenken. Sonst bewegt er sich auf dem Berg und springt von dem Felsen.«
    Ich holte tief Luft. Ich würde darüber nachdenken müssen.
    »Noch etwas, Tenzin. Pala geht es nicht gut.«
    Sein Lächeln verschwand.
    »Ja, ich weiß.«
    »Bisher habe ich noch nie seinen Geisteszustand in Frage gestellt, doch jetzt hätte ich allen Grund dazu. Er leidet unter Depressionen.
    Ich werde ihm Medikamente verschreiben.«
    »Nein«, sagte er. Seine Antwort klang sehr bestimmt.
    Ich biß mir auf die Unterlippe.
    »Was ist mit ihm, Tenzin?«
    Er schwieg. Ach, zerbrich dir nicht den Kopf, sagte ich mir.
    »Na gut, ich nehme an, er muß selbst damit fertig werden.«
    Ruhig bewegte Tenzin sich durch den Raum, goß frischen Tee auf.
    »Er sagt, er muß einen Menschen erträumen. Und von diesem Vorhaben läßt er sich nicht abbringen.«
    Mir lief es kalt über den Rücken.
    »Dein Vater ist ein Träumer«, hatte Amla gesagt. Das Wort Träumer kann in unserer Sprache auch Seher bedeuten.
    Ich nahm den Becher, den Tenzin mir reichte.
    »Was hat er dir erzählt?«
    »Daß er von Dingen träumt,

Weitere Kostenlose Bücher