Die Tibeterin
die weit zurückliegen, die sich 54
irgendwo in Tibet abgespielt haben vor zwanzig oder dreißig Jahren, meint er. Er verbraucht dabei viel Kraft. Aber er sagt, die Erinnerungen werden deutlicher.«
Der Becher zitterte in meiner Hand. Ich stellte ihn behutsam auf den Tisch neben mir.
»Dinge, die er erlebt hat? In seinen früheren Leben?«
Tenzin verneinte mit langsamem Kopfschütteln.
»Nein, nein. Er weiß nicht, woher sie kommen.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir der Sinn seiner Worte klar wurde. Ich sagte lebhaft und ziemlich irritiert:
»Das verstehe ich nicht. Bis zu einem gewissen Punkt, vielleicht.
Aber darüber hinaus…«
»Mach dir jetzt keine Gedanken, Tara.«
Ich wurde plötzlich vehement.
»Kannst du mir das nicht erklären, Tenzin? Ich mache mir Sorgen um ihn!«
»Das brauchst du nicht.«
»Doch, Tenzin. Hilf mir, es zu verstehen.«
Er strich sich über die Stirn, die mit einem leichten Schweißfilm überzogen war. Seine Stimme klang sanft und voller Mitgefühl.
»Es ist sehr merkwürdig, Tara. Die Erinnerungen sind nicht die seinen.«
Die Worte hallten; auf eigentümliche Weise sah ich sie ebenso, wie ich sie hörte. Sie glimmerten vor meinen Augen wie kleine Migränefunken.
»Wessen Erinnerungen denn?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Tashi hat von einem Mann gesprochen. Und er ist nicht einmal sicher, ob er ihn nicht erfunden hat.«
Ich unterdrückte ein Schaudern.
»Aber sicher hat er ihn erfunden! Ganz bestimmt sogar.«
Er antwortete nicht sofort. Sein Blick verlor sich ins Leere.
Unvermittelt seufzte er.
»Tashi weiß nicht, wer er ist. Er nennt ihn: >der Reiten.«
Als ich mich von Tenzin verabschiedete, wartete draußen vor der Zelle ein Mönch in Begleitung einer jungen, hochschwangeren Frau.
Sie verneigte sich ehrerbietig und brachte die Bitte vor, der Ehrwürdige Tenzin Rimpoche möge ihren Leib segnen und dem Kind einen Namen geben. Tibetische Lamas legen ihre Hände auf den Leib der Mutter und wissen, ob das Ungeborene ein Mädchen 55
oder ein Knabe sein wird. Sie benötigen dazu keine Echographie.
Und sie irren sich niemals.
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6. Kapitel
I m Kantonsspital war allerhand los. Es gab solche Tage. Arnold Kissling und ich verbrachten sieben Stunden am Operationstisch. Ein Blinddarm, ein Nierentumor. Dann zwei Notfälle, fast gleichzeitig: einen Dealer hatte ein Messerstich in der Leber erwischt. Der zweite Patient war ein Landwirt. Die Männer von der Ambulanz brachten ihn auf einer Bahre. Sein linker Fuß hing als blutiger Klumpen an den Sehnen. Ein Traktorunfall. Ich hatte selten etwas Schlimmeres gesehen. Wir mußten amputieren. Professor Kissling erinnerte mich in mancher Hinsicht an meinen Vater. Er war kleingewachsen, wortkarg, mit einem sanften Gesicht. Seine ganze Kraft lag in seinen ruhigen, aufmerksamen Augen, in seinen sensiblen Händen, Seismographen der Empfindlichkeit. Die Hände der Ärzte hatten mich stets fasziniert. Es gab unsichere Hände und geschulte, doch mit unpersönlichem Griff; manche enthüllten das Wesen des Arztes, zuvorkommend und einfühlsam sogar unter dem Operationshandschuh. Arnold Kissling hatte solche Hände. Wir arbeiteten zu dritt: der Chefarzt, ein junger Internist aus Ghana und ich. Wunden spülen. Knochen stabilisieren. Blut erneuern. Der Landwirt erwachte aus der Narkose und bekam einen Schock. Die Schwester holte mich gerade rechtzeitig. Der Mann war naß vor Schweiß, atmete flach, sein Herz raste. Der Blutdruckabfall war lebensbedrohend. Da die Venen des Mannes durch den Blutdruckabfall nicht sichtbar waren, entschloß ich mich zu einer Punktion der Schlüsselbeinvene. Ich führte eine Punktionskanüle ein, schob den Venenkatheder vor, schloß das freie Ende an eine Infusionsflasche an. Nachdem ich die richtige Lage des Katheders geprüft hatte, zog ich ihn vorsichtig zurück. Das Heftpflaster hielt.
Ich atmete erlöst auf. Ich spürte, wie ich innerlich zitterte.
»Er hat vier Kinder«, sagte die Schwester leise. »Armer Kerl!«
Was ich jetzt brauchte, war Ablenkung. Ich rief meine Freundin Laura an, die ihre Praxis in der Nähe des Kantonsspitals hatte. »Hast du Zeit?«
Wir verabredeten uns bei Roberto. Laura kam zu spät, mit erhitztem Gesicht, und zündete sich gleich eine Zigarette an.
»Die habe ich nötig! Willst du auch eine?«
Sie hielt mir das Päckchen hin. Ich schüttelte den Kopf.
»Du weißt doch, ich rauche nicht mehr.«
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Sie stieß den Rauch durch die Nase.
»War’s schlimm
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