Die Tibeterin
vergleichen; nichts paßte zusammen, es war schon zu lange her. Karma lachte, als ob sie in meinen Gedanken las, und strich ihren Kittel über den Hüften glatt. Ihre Stimme war tief und melodisch.
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»Ich bin fett geworden, siehst du?«
»Unsinn. Du siehst gut aus.«
Karma war großgewachsen, kräftig. Sie trug lange, schwarze Zöpfe, der Mittelscheitel betonte ihr volles, herzförmiges Gesicht.
Ihre Haut war wie heller Honig, die Augen schmal und leuchtend, die kleinen Hände unberingt. Ihr ganzes Wesen strahlte Gelassenheit aus. Heiter begrüßte sie die Frau, die amüsiert und nicht im geringsten verlegen zuhörte, und bat mich um ein paar Minuten Geduld.
»Keine Anmeldungen mehr, Dechi?« fragte sie die Krankenschwester, die verneinte. Zu mir sagte sie: »Dr. Shankar kommt zum Schichtwechsel. Ich sage ihm, was es Neues gibt, und er löst mich ab. Wir können gleich gehen.«
Sie führte die Frau in ihr Sprechzimmer. Dechi, munter und gesprächig, erzählte mir, daß die Krankenstation über zwei Achtbettzimmer verfügte, so daß Frauen und Männer getrennt liegen konnten. Es gab auch fünf Einzelzimmer für die Schwerkranken oder für Patienten, die wegen einer Infektion isoliert wurden.
»Aber in diesem Jahr«, sagte Dechi zufrieden, »hatten wir nur zwei Fälle von ansteckender Gelbsucht.«
Zwei Pflegerinnen, die gerade die Schule hinter sich hatten, und eine Hebamme gehörten zum Personal. Die meisten Kranken waren Flüchtlinge, erschöpft von den Strapazen.
»Alte Menschen liegen selten bei uns«, erklärte Dechi. »Sie werden, so lange es geht, zuhause gepflegt. Wir besuchen sie regelmäßig und sehen zu, daß die hygienischen Vorschriften eingehalten werden. Manchmal leben sechs oder acht Menschen unter einem Dach, aber das stört die Alten ebensowenig wie das Geschrei der Kinder. Sie fühlen sich in der Familie geborgen.«
Die Tibeterin kam aus dem Untersuchungszimmer und gab Dechi einen Zettel. Dechi ging zu dem Medikamentenschrank und öffnete einen Behälter. Sorgfältig zählte sie eine Anzahl größerer Pillen und füllte sie in einen kleinen Plastiksack, den sie der Frau mit der Bemerkung reichte, jeden Abend acht dieser Pillen mit Wasser zu zerkauen. Die Frau dankte zufrieden; sie bückte sich, hob den kleinen Jungen mit geübtem Griff auf ihren Rücken und ging. Das Säckchen mit den Medikamenten steckte sie in die Brusttasche ihrer Tschuba. Inzwischen war auch Karma wieder da. Sie hatte ihren Kittel ausgezogen, trug ihre Tschuba aus blauem Tuch, darüber eine Strickjacke, und bestand darauf, meine Tasche zu schleppen.
103
»Du kannst bei mir wohnen«, sagte sie. »Ich lebe allein.« Sie verzog den Mund auf eine komische Art, halb Lächeln, halb Grimasse. »Ich komme langsam in das Alter, wo mich Männer nicht mehr interessieren.«
»Ach, das glaube ich nicht. Du bist ja noch jung.«
»Zweiundfünfzig«, erwiderte sie.
Ich starrte sie verblüfft an. Sie sah zehn Jahre jünger aus. »Das hätte ich nie gedacht.«
Sie lachte; ihre Zähne waren weiß und gesund.
»Tja«, gestand sie, »da gibt es manchmal jemanden. So ein Camp ist eine kleine Stadt, du wirst schon sehen; man weiß nie, was in einer Weltstadt alles passieren kann. Und du, bist du verheiratet?«
»Ich hatte nicht die Zeit dazu.«
Sie blinzelte schelmisch.
»Ich glaube dir kein Wort.«
Karma wohnte unweit der Krankenstation, in einem Haus, das sie mit einem älteren Ehepaar teilte. Hinter der Hecke lag eine kleine Rasenfläche. In zahlreichen Töpfen blühten Tausendschönchen und kleine weiße Nelken. Ein schmaler Sandweg führte zur Haustür, die nicht abgeschlossen war. Meinen erstaunen Blick beantwortete Karma mit einem Schulterzucken.
»Es gibt hier keine Diebstähle.«
In der Wohnung schlug mir ein ungewöhnliche Geruch entgegen, frisch, würzig, etwas bitter; mir war, als vereinen sich alle Düfte der Gräser, der Rinden und Bäume in ihm.
»Woher kommt das?« fragte ich verwundert.
»Gewisse Medikamente bereite ich hier zu. Ich arbeite zumeist mit Pflanzen. Manche müssen in der Sonne trocknen, andere in der Dunkelheit. Stört dich der Geruch?«
Ich schüttelte den Kopf, ließ meinen Rucksack von den Schultern gleiten. Karma bewohnte zwei kleine Räume. Dazu gehörte eine Kochnische. Und seit kurzem sogar ein Badezimmer.
»Vor einem halben Jahr wurde das Camp kanalisiert. Wasser haben wir morgens und abends jeweils drei Stunden lang.«
Sie öffnete eine Tür neben der Küche. Man hatte einen
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