Die Tibeterin
Ramsch! «
»Sie amputieren?« fragte ich.
»Was sonst? Es geht einfach nicht anders, wenn das Gewebe schon verfault ist.«
Er schwieg, beschäftigte sich mit seiner Zigarette und sagte dann: 109
»Wissen Sie, diese Menschen fliehen nicht, weil sie in Armut leben. Armut können sie ertragen. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel, um Kultur und Sprache zu bewahren. Vielleicht sollte ich sagen, daß ich sie bewundere. Aber als Arzt muß ich Entscheidungen treffen.
Helfen kann ich nicht immer. Und das ist auf die Dauer belastend…«
Karma ging mit mir zum Sekretariat, das im Erdgeschoß eines alten Gebäudes neben der Schule lag. Der Raum, in den sie mich führte, war ebenso herunterkommen wie zweckmäßig: Aktenschränke aus Metall, abgewetzte Stühle, altmodische Schreibtische, auf denen die Bildschirme der Computer flimmerten und Berge von Unterlagen sich häuften. Kein Versuch, durch kosmetische Maßnahmen das Wohlgefallen der Besucher zu erregen
– hier wurde gearbeitet. An der fleckigen Wand, gegenüber der Eingangstür, hing das übliche Porträt des Dalai Lama, handkoloriert, daneben eine Anzahl verblichener Kalenderbilder. Durch die Fenster war das Klostergebäude zu sehen; der vergoldete Tschörten funkelte im Sonnenlicht. Eine Sekretärin sprach lebhaft ins Telefon. Dorje Sandup, der Vorsteher, kam um seinen Schreibtisch herum, um uns zu begrüßen; ein lebhafter Mann, der das Bein etwas nachzog und mit dröhnender Stimme lachte. Er fegte zwei Aktenstöße auf den Boden, machte Stühle für uns frei. Ein schüchterner junger Mann brachte Orangensaft in Pappbechern. Im Raum herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, jede Minute klopfte jemand an die Tür. Die Sekretärin sprach gleichzeitig in den Telefonhörer, händigte den Besuchern Unterlagen aus und arbeitete an ihrem Computer. Als endlich eine Pause eintrat, stand sie von ihrem Stuhl auf und schüttelte uns in die Hand. Pema Thetong trug Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Free Tibet«. Sie war in Berlin als Sozialarbeiterin tätig gewesen und sprach außer tibetisch und nepalisch noch englisch und deutsch. »Ohne Frau Thetong läuft hier nichts«, sagte Dorje Sandup mit einem Lachen, das den ganzen Raum erfüllte. Pema lachte auch, widersprach aber nicht. Sie vertrat das Camp bei der tibetischen Exilregierung in Dharamsala, reiste ein paarmal im Jahr nach Indien und förderte Berichte von erstaunlichen Umfang zutage; ihre Statistiken galten als sehr aufschlußreich.
Um die religiösen Fragen kümmerte sich ein Abt, während Tsering Dadul, den ich bereits kannte, für die Arbeitsverteilung zuständig war. Zu der Verwaltung gehörten ferner ein Kassenwart, ein Landwirtschaftsexperte, eine Gruppe Erzieher und zwei Mönche.
»Wir verfügen natürlich nur über begrenzte Möglichkeiten«, sagte 110
Pema Thetong. »Zum Glück sind wir nicht nur auf Spenden angewiesen.« Das Camp funktionierte nahezu autark. Die nepalische Regierung hatte das Land zur Verfügung gestellt, mehr aber auch nicht. Die Siedlung baute Getreide, Erbsen und Weizen an. Die Erde war üppig und ermöglichte zwei bis drei Ernten im Jahr. Die Tibeter züchteten auch ihr eigenes Obst und Gemüse. Die Mönche hielten eine Herde Schafe, sowie einige Dzo – die Kreuzung zwischen einem Yak und einer Kuh – die vorzügliche Milch gaben, während die männlichen Tiere sich gut zum Pflügen eigneten. Den Großteil ihrer Gewinne bezog die Siedlung aus der Weberei. Für die hergestellten Wollstoffe benutzten die Weber traditionelle Pflanzenfarben. Die Teppiche mit ihren urtümlichen Mustern waren in Amerika und Europa beliebt. Die Möbelhäuser wurden ohne Zwischenhändler beliefert, und die Produkte waren von allerbester Qualität. Die Gewinne waren zufriedenstellend, obwohl die Krise in den westlichen Ländern nicht ohne Auswirkungen blieb: Die Leute kauften weniger Teppiche. »Aber sie sollen ja auch lebenslang halten«, bemerkte stolz Dorje Sandup, der wenig Sinn für das Praktische hatte. Früher lebten die Flüchtlinge in Baracken, heute in Steinhäusern, die über sanitäre Einrichtungen und ein paar Quadratmeter Rasenfläche verfügten. Im Camp befanden sich ein Lebensmittelgeschäft, eine Wäscherei, eine Souvenirladen und eine Kantine.
»Sie funktioniert als Kooperative, wir sagen natürlich
>Restaurant<, das hört sich besser an. Jeder dort tut, was er kann.«
Pemas Mundwinkel zuckten. »Im Zweifelsfall ist Suppe zu empfehlen.«
Einige Flüchtlinge
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