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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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    199

23. Kapitel

    I n der Nacht hatte es geregnet; die Straße war feucht, an einigen Stellen sumpfig. Wir fuhren durch ein Gewirr von Hügeln, zwischen denen sich die Straße in engen Kurven und Serpentinen entlangwand. Schwärzliche Auspuffgase verpesteten die Luft. Die Straße war so steil und schmal, daß die mit Flitter und Talismanen behängten Busse und Lastwagen nur im Schneckentempo vorwärts krochen. Nicht selten gerieten sie gefährlich dicht an die Seite, streiften mit den Rädern den bröckelnden Rand am Abgrund. Infolge ihrer Last, die stets erheblich das erlaubte Gewicht überstieg, waren sie auf der steilen Straße noch schwerer zu lenken. Atan fuhr gewandt und sicher, nahm die Kurven scharf, überholte unter Motorendröhnen die schwerfälligen Fahrzeuge. Er liebte schnelles Fahren. Wenn der Jeep stark schwankte, wurde ich gegen ihn geworfen, fühlte seinen harten, straffen Schenkel. Dann wandte er kurz den Kopf und blinzelte mir zu, bevor er wieder seine volle Aufmerksamkeit der Straße zuwandte. Kurve folgte auf Kurve.
    Manchmal staute sich der Gegenverkehr wie eine lange, schmutziggraue Raupe dicht an der Felswand, während der Wind Staub aufwirbelte. An den Hängen häufte sich der übliche Zivilisationsabfall, bloß daß er hier eine beängstigende Menge erreicht hatte: Bücher, Batterien, leere Bierdosen, Flaschen und Plastikfetzen, so weit das Auge reichte. Sherpas, fast alle barfuß, stapften in Kolonnen daher. Männer mit mageren, safranfarbenen Gesichtern hockten am Straßenrand, sahen dem Verkehr zu.
    Mädchen und Knaben in hellblauen Uniformen gingen zur Schule.
    Schweine grunzten, zartgliedrige Frauen wuschen sich an Brunnen, deren Wasser frisch sprudelte. Die überfüllten Raststätten waren eine Mischung aus Imbißstuben und Läden, in denen man Dosen und Flaschen, Tee, Milchpulver, Streichhölzer, Kekse und alle möglichen Gegenstände – von der Wollmütze bis zum Schlafsack - kaufen konnte, die die Trekker brauchten. Die Bauern nutzten jeden Quadratmeter, um ihre steinigen Terrassenfelder zu beackern. Selbst in diesen Hochtälern wurde Reis angepflanzt. Aber der Ertrag war armselig und ließ sich nicht steigern. Die rostroten Berghänge wurden krümeliger Staub in der trockenen Hitze und breiiger Schlamm in der Regenzeit. Oberhalb eines Hanges klaffte eine riesige, braunrote Wunde. In der Talmulde befanden sich Zelte und 200
    Bretterbuden. Ein Bagger räumte Schutt und Steinmassen, aus denen ein paar Mauerreste ragten, zur Seite.
    »Der Erdrutsch hat ein Dorf begraben«, sagte Atan. »Alle Berge hier sind Schlammkegel. Die Straße haben die Chinesen gebaut, sie spinnen ihr Netz nach Süden. Was sie nicht bauen, sind Stützmauern.
    Geld ist in Hülle und Fülle vorhanden, nur nicht dafür. Daß die Berge den Bauern auf den Kopf rutschen, ist eben Pech.«
    Am Nachmittag ließ der Verkehr nach. Fahren bei Nacht galt als gefährlich. Atan kannte eine Sherpafamilie im nächsten Dorf; wir würden in ihrem Haus übernachten. Allerdings trennten uns noch mehrere Kämme von unserem Ziel, und als wir es erreichten, sank bereits die Sonne. Die Hänge leuchteten wie reines Kupfer. Eine kleine Maschine der Air Everest flog eine Ladung Touristen durch das goldglühende Abendlicht.
    Das Dorf, unter Nuß- und Obstbäumen versunken, hatte sich geöffnet, um der Straße Durchlaß zu gewähren. An beiden Seiten standen Bretterbuden, in denen für die Reisenden Tee gekocht wurde, schwarzer oder grüner. Im Dorf befanden sich eine Mühle mit Dieselmotor und ein paar Läden für die Trekker. Die Lehmhäuser hatten flache Holzdächer und enge Fenster zum Schutz gegen die Kälte. Es roch nach Holzkohlenfeuer, Kuhmist und Harz.
    Ein paar Kinder liefen auf den Wagen zu. Ich sah im letzten Tageslicht ihre kupferbraunen, schmutzigen Gesichter. Ich rief ihnen Scherzworte zu, sie kicherten fröhlich und scheu. Zutraulich faßten sie meine Hand, während ich neben Atan die Straße entlang stapfte.
    Das Haus, zu dem er mich führte, war mit Rundhölzern gedeckt und in kräftigen Orange getüncht. Vor dem Eingang wehten Gebetsfahnen an einen Bambusmast. Eine rotwangige junge Frau, ein kleiner Junge mit feinem Profil und zwei Männer versammelten sich vor der Tür, um uns zu begrüßen. Die Frau trug eine Kette mit dicken Korallenkugeln und ein Tuch um die Schultern, in dem ein Kleinkind eingewickelt war. Die beiden Männer – der eine älter, der andere jünger – waren mit Jacken aus Schaffellen

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