Die Tibeterin
bekleidet, die mit bunten Stoffstreifen verziert waren. Die Frau hieß Tsewang, die beiden Männer Ullal und Dorje.
Polyandrie ist bei den Sherpas und in manchen Gegenden Tibets noch heute üblich. Dorfverwaltung und Handel liegen in den Händen der Frauen. Heiratet ein Mädchen, so ehelicht es gleichzeitig den jüngeren Bruder seines Mannes. Der Brauch entspricht einer praktischen Erfahrung: Stirbt das Familienoberhaupt, wird das 201
wenige ackerträchtige Land unter den Söhnen aufgeteilt. Und für den Einzelnen reicht es als Lebensunterhalt meistens nicht aus. Haben die Brüder nur eine Frau, bleibt der Besitz ungeteilt. Die Kinder aus solchen Verbindungen betrachten stets den älteren Bruder als Vater, auch wenn es der Jüngere ist, der sie gezeugt hat. Die Frau verwaltet den Besitz, die Männer bestellen die Felder. So ist für den Wohlstand der Sippe gesorgt; Frau und Kinder fühlen sich sicher, denn auf einen einzigen Mann – sagt der Volksmund – ist ja kein Verlaß. Im früheren Tibet war Polyandrie verbreitet. Oft heiratete eine Frau nur unter der Bedingung, daß ihr Mann einer zweiten Ehe, zumeist mit einem jüngeren Partner, im voraus zustimmte. Daneben gab es Tibeter, die mehrere Frauen hatten, aber Polygamie übten nur jene aus, die es wünschten und es sich leisten konnten. Die anderen Frauen mußten einverstanden sein und jede ihren eigenen Haushalt haben.
Das Haus, in das wir geführt wurden, war karg und zweckmäßig gebaut: Zu ebener Erde lagen zwei kleine Zimmer mit Holzdecken.
Gleich daneben befand sich der Ziegenstall, Hühner spazierten ein und aus. Der Boden war aus Lehm, wir saßen auf niedrigen Bänken.
Ein Feuer aus Holzkohle und trockenem Kuhmist brannte. Dies war der Raum, der am meisten benutzt wurde, der schmutzigste, aber auch der lebendigste und gemütlichste. In der Mitte ragte ein dicker Baumstamm bis unter die Luke. Er hatte offensichtlich keine praktische Funktion, die Dachbalken wurden von den Mauern getragen. Ich fragte Tsewang, wozu der Baum diente; sie wußte es nicht. Ich sagte zu Atan: »Vielleicht erinnert er an die Zeit, als Menschen unter Bäumen Schutz vor den Naturgewalten suchten.«
Draußen war das Quietschen einer Reismühle zu hören. Dorje, der jüngere Mann, schaukelte das Weidenkörbchen, in dem das Baby schlief. Er sang mit leiser, angenehmer Stimme ein Wiegenlied dazu.
Das alles war neu für mich und gleichzeitig merkwürdig vertraut.
Mir kam in den Sinn, daß das, was wir »Wurzeln« nennen, nichts anderes ist als ein Geheimwissen unserer Zellen, das uns wie eine lange Kette mit den Ahnen verbindet.
Tsewang bereitete den Tee. Ihre mit Muscheln und Amuletten geschmückten Zöpfe umrahmten ihr freundliches Gesicht, das im Feuerschein glänzte. Sie schnitt ein großes Stück Butter in einen Plastiktopf, füllte heißen Tee ein, schüttelte den Topf, bis sich die Butter aufgelöst hatte. Dann goß sie das Getränk in einen Krug und füllte unsere Tassen. Es stellte sich heraus, daß Atan hier mit Sonam 202
und dem Kind übernachtet hatte. Tsewang fragte nach ihr. Alle freuten sich zu hören, daß es ihr besser ging und daß auch das Baby überleben würde. Das Essen bestand aus einem scharf gewürzten Reisgericht mit Gemüse und Hühnerfleisch. Die moderne Welt hatte überall Einzug gehalten: Die kunstvoll aus Holz gedrehten Butter-und Milchgefäße wurden durch Aluminium und Plastik ersetzt. Der achtjährige Porong trug eine Mütze mit der Aufschrift »Honda« und ging zur Schule wie alle Kinder im Dorf. Die Sherpas legen großen Wert auf Bildung, sind der Welt gegenüber sehr aufgeschlossen. Für die Lastwagenfahrer und Trekker hatte man Unterkünfte – Lodgen genannt – gebaut, und die meisten Sherpas hatten Arbeit. Das Dorf hatte ein gesünderes Trinkwassersystem bekommen, was die Kindersterblichkeit verringerte. Die Straße hatte Fortschritt, aber auch Lärm und Müllhalden gebracht. Die Leute waren zufrieden, hier ging es um Notwendigkeiten.
Ich mußte mich in einer anderen Lebensweise zurechtfinden.
Einfach würde es nicht sein: Zum Waschen war nur ein Eimer da, ich bemerkte die Fliegen, den Ziegendreck. In der Nacht schlief ich schlecht, einträchtig mit der Familie auf einem Schafsfell am Boden neben der Feuerstelle. Der Kälte wegen wurde Tag und Nacht unter der Asche Glut unterhalten. Es roch nach allem möglichen, vornehmlich nach Ziegenfett und Urin. In den Wolldecken saßen Flöhe. Ungeübt, wie ich war, gelang es mir erst am Morgen,
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