Die Tibeterin
den Lenden. Ich fühlte ihn in mir, immer, die ganze Zeit. Was war los mit mir? Warum war ich plötzlich so verletzlich? Er allein wußte, was er mir angetan hatte.
Ich schluckte. Ich durfte nicht weich werden, nicht auf diese Art.
Schwäche rief bei mir jedesmal Widerwillen hervor. Was ich jetzt brauchte, war ein klarer Kopf, kein schmelzendes Fleisch im Unterleib.
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»Wenn man unbedingt etwas will, was man nicht haben kann, dann wird das Leben unerträglich. Das ist nichts für mich, Karma.«
»Wenn du das immer vermeiden kannst, hast du mehr Einsicht als andere Menschen«, erwiderte sie, nicht ohne Ironie.
Ich sagte mit schwacher Stimme:
»Ich erwarte nicht, daß du meine Gefühle verstehst. Sie sind ein bißchen billig, gebe ich zu.«
Sie hob ihre Hand, die warm und stark war, und legte sie auf meine. Die Berührung gab mir Kraft. Ich brauchte das jetzt. Meine eigene Hand fühlte sich kalt an, kalt wie die einer Frau, die unter Schock steht.
»Vielleicht verstehe ich dich ein wenig.«
»Ich erwarte nichts. Ich warte ab, was geschieht. Aber da ist noch etwas anderes in mir, das etwas will. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kann das nicht erklären«, setzte ich aufgebracht hinzu.
Sie drückte meine Hand und lächelte ein wenig. Sie behandelte mich mit großer Geduld.
»Wozu Wort verschwenden?)«
Ich seufzte neiderfüllt.
»Wie ruhig du bist! Wie überlegen und ruhig. Ich wünschte, ich könnte auch so sein.«
»Und was hast du davon? Spiel nicht die Scheinheilige. Wann kommt er wieder?«
»Morgen, irgendwann mal. Er übernachtet in Pokhara.«
»Ich möchte ihn sehen.«
Karmas Wesen war einfacher als meines, weiblich intuitiv und von großer Sachlichkeit. Auf mein Vorhaben reagierte sie mit Einsicht, Fürsorge und schonend vorgebrachten Bedenken. Als Atan sich ihr am nächsten Tag vorstellte, prüfte sie ihn neugierig und gründlich, musterte ihn von seinem dichten Haar über sein Wolfsfell bis zu den Ledergamaschen und wieder zurück.
»Setzen Sie sich«, sagte sie.
Daß Sonam und ihr Baby ihm das Leben verdankten, hatte ich ihr schon gesagt. Sie fragte nach Einzelheiten, schaute ihm dabei beharrlich in die Augen. Karmas Art, keine Gefühle zu zeigen und auf Umwegen zum Kern der Sache vorzudringen, verunsicherte ihn keineswegs. Er erwiderte ihren Blick, wobei er unmerklich lächelte.
»Was suchen Sie auf meinem Gesicht?« fragte er unverblümt, als eine Pause im Gespräch eintrat.
Sie sagte ganz kühl:
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»Nun, ich sammle Heilkräuter mit eigenen Händen auf den Bergen, ob es regnet oder klar ist, in der vorgeschriebenen Art. Ich weiß seltene Pflanzen zu schätzen.«
Er nickte gleichmütig.
»Einige sind bei falschem Gebrauch tödlich.«
Karmas Antwort war so gelassen wie der Blick, der sie begleitete.
»Keine Sorge deswegen. Ich erkenne sie, auch wenn manche Menschen es nicht tun.«
Eine weitere Pause folgte. Karma schien zu überlegen. Etwas an dem Benehmen und der sanften Sprechweise dieses Mannes paßte nicht zu seinem verwegenen Aussehen und dem üblen Ruf eines Steppenreiters. Sie hatte offenbar ein instinktives Zutrauen zu ihm gefaßt; tibetische Ärzte lernen vor allem eines: das Wesen eines Menschen schnell und unfehlbar zu deuten. Sie fragte ihn nicht, woher er seine Auskünfte über Chodonla hatte, sondern ließ ihn über ihre Gesundheit sprechen. Ein chinesischer Arzt hatte Chodonla untersucht und durchleuchtet. Er hatte ihr gesagt, sie sollte nach Hause gehen und sich ausruhen. Als Tibeterin hatte sie keine Vorzugsberechtigung für ein Bett. Tuberkulose war eine Seuche, die sich aufs neue stark ausbreitete. Und im Krankenhaus gab es lange Wartelisten.
»Sie sieht sehr mager aus und hat jede Nacht Fieber. Ihr Herz schlägt zu schnell. Sie sagt, sie kann ihren Kopf nicht mehr tragen.
Die Pillen und Kapseln, die sie nimmt, taugen nicht viel. Und was am schlimmsten ist: Das Sterben läßt sie gleichgültig.«
Ich hörte jedes Wort und zitterte. Ich fühlte mich so eng mit ihr verbunden, daß es mir unmöglich erschien, daß die eine von uns sterben könnte, ohne daß die andere es wahrnahm. Ich mußte etwas tun, um den Tod zu bannen. Ihren Tod. Chodonla wollte sterben, aber ich würde es nicht zulassen.
Ich sagte zu Karma:
»Ich denke, ich sollte alles versuchen. Vielleicht muß ich mit ihr reden, lange und viel reden, ehe sie wieder Mut faßt. Wenn ich mich nicht von der Stelle rühre, wird sich nichts, gar nichts ereignen. Dann wird sie sterben, und ich trage die
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