Die Tiefe einer Seele
zugelassen, dass ihre Psyche, ihr ganzer Körper kapitulierte und es war wie bei den anderen beiden Malen bis zum äußersten gekommen. Immer die Sackgasse, immer der Super-GAU. Und danach der stets erfolglos gebliebene Versuch, sie zu heilen. Das wollte sie so nicht mehr! Sie musste heraus aus dieser Situation, bevor ein weiteres Mal die Gewalt gegen sich selbst ihr letzter Ausweg war. Natürlich wusste sie, dass es verdammt schwierig werden würde, diesen Kampf am Ende zu gewinnen. Dennoch war sie entschlossen, ihn durchzustehen, komme, was wolle.
Sie dachte an den Moment, als sie ihren Eltern mitgeteilt hatte, dass sie sich zur Behandlung nach Aurich begeben würde. Entsetzt waren sie gewesen, dass die nächste dunkle Phase schon wieder an die Tür klopfte, nur ein knappes, halbes Jahr, nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Entsetzt und voll Angst, ja, aber auch voller Erstaunen und hoffnungsfroh, dass ihre Tochter sich gegen das zu Wehr setzte, was sie zu vernichten drohte. Sie hatte ihre fragenden Blicke bemerkt, doch natürlich hatte sie einen Teufel getan und ihn jetzt hier ins Spiel gebracht.
Obwohl das berechtigt gewesen wäre. Denn er war es, der hinter allem steckte. Der zum einen durch seine herzlose Abweisung die traurige Stimmung sicherlich mit zu verantworten hatte, der aber auf der anderen Seite in ihr auch den Wunsch wiedererweckt hatte, endlich »normal« zu sein. Endlich leben zu dürfen, endlich zu gesunden. Er war also beides, der Bösewicht und der tadellose Ritter in einer Person, sozusagen eine Neuauflage von Mr. Hyde und dessen besserem Ich, Dr. Jekyll. Sie musste tatsächlich lächeln, als ihr dieser vielleicht dann doch etwas unpassende Vergleich einfiel.
Ewig hätte sie hier so sitzen können, nicht bemerkend, dass mittlerweile nicht nur ihre Haare, sondern auch ihre Kleider vor Nässe trieften.
»Glaubst Du, dass, wenn Du nur lange genug im Regen sitzt, Du eventuell noch wachsen könntest?«
Amelie erstarrte beim Klang dieser wohlvertrauten und so schmerzlich vermissten Stimme. Ganz langsam drehte sie ihren Kopf zur Seite, beinahe gelähmt von der Furcht, sie wäre einer Halluzination erlegen. Aber nein, da stand er. Groß, unverschämt gut aussehend, grinsend. Ihre Kinnlade fiel nach unten.
»James«, flüsterte sie erschüttert.
»Ja, genau, der bin ich«, lachte der Mann sie an. »Wie schön, dass Du meinen Namen nicht vergessen hast.«
In Amelie regte sich etwas, was andere Menschen durchaus als einen Fluchtreflex bezeichnen würden. Wie von einer Tarantel gestochen, sprang sie auf und wollte sich fliegenden Fußes verabschieden, um unter allen Umständen das zu vermeiden, was sie doch insgeheim so sehr herbeigesehnt hatte. Ihn wiederzusehen, ihm nahe zu sein. Sie gab alles und rannte, als wenn der Leibhaftige sie verfolgte. War ja auch irgendwie so, denn schließlich hatte dieser Mann sie verhext, in seinen berauschenden Bann gezogen.
Amelie wähnte sich schon ein gutes Stück voraus, aber sie hatte die Rechnung ohne den ehemaligen Football-Spieler gemacht, der in seinen besten Jahren wegen des schnellen Antritts öfters mit »Rocket« betitelt worden war. Was er jedoch gar nicht gerne gehört hatte. Mühelos holte er sie ein und fasste sie unsanft am Sweatshirt, das gefährlich in den Nähten krachte. Mit einer einzigen Bewegung drehte er die junge Frau herum und riss sie in seine Arme. Umschlang sie energisch, hob sie an und hielt sie, die wie wild zappelte, so fest, dass sie recht bald jede Art von Gegenwehr einstellen musste.
»Calm down, Sweety«, raunte er ihr mit heiserer Stimme ins Ohr. »Jetzt beruhige Dich endlich!«
»James, bitte, was soll denn das?« fauchte sie aufgebracht.
»Was das soll?«, erwiderte der schon längst nicht mehr grinsende Amerikaner extrem angespannt. »Diese Frage steht eigentlich mir zu. Warum läufst Du weg vor mir, Amy? Es gibt keinen Grund dafür, und ich habe nicht schlecht Lust, Dir den Hintern zu versohlen.«
»Geh weg, James! Ich will Dich nicht sehen!«
»Dann mach von mir aus die Augen zu. Weggehen werde ich nämlich auf keinen Fall.«
»Was ist hier los, Amelie?« Mattis, der Betreuer, eilte äußerst angriffslustig durch den strömenden Regen auf sie zu. »Belästigt Sie der Typ wohlmöglich?«
Amelie, die unablässig mit etwa 20 Zentimetern über den Boden schwebenden Füßen in den Armen des Aggressors eher hing als lag, blickte hilfesuchend zum Himmel. Hätte sie doch bloß mehr von diesen Pillen
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