Die Tiefe einer Seele
Grübelei. Er nahm einen großen und wohltuenden Schluck Kaffee aus seinem Becher. Dann drehte er sich zu seiner Schwester hin und suchte ihren Blick. Und genau, wie er zuvor geahnt hatte, was Erin ihm sagen wollte, wusste auch sie sofort, was der Bruder ihr mitteilen würde.
»Liebes, ich weiß Deine Sorge wirklich zu schätzen. Dein Rat ist mir immer sehr wichtig, das musst Du mir glauben, nur in diesem Fall werde ich ihn nicht annehmen können. Du hast recht, nach Liams Tod habe ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen. Habe meinen Gram in mich hineingefressen, anstatt es wie Du zu machen; zu weinen, zu toben, wütend die Welt anzuklagen, um so das Gefühl der Schuld ein wenig zu lindern. Ja, wir beide haben in diesem November vor sieben Jahren Schuld auf uns geladen. Ich so viel mehr als Du, wohlgemerkt, und da dulde ich auch jetzt keinen Widerspruch, viel zu lange habe ich Dich diesen schweren Ballast mittragen lassen. Wir beide hätten auf den Kleinen aufpassen müssen, ja, aber ich war sein Vater, ich hatte die Verantwortung und ich habe kläglich versagt. Der Moment, in dem ich meinen toten Sohn in meinen Armen hielt, tatenlos dabei zusehen musste, wie seine zarte und reine Seele uns entrissen wurde, der hat sich in mein Gedächtnis eingefressen wie ein eitriges Geschwür in meine Eingeweide. Ich hätte mit diesem Schmerz nie und nimmer existieren können, Erin, er hätte mich zerrissen. Darum habe ich den Schalter umgelegt und entschieden, dass ich besser gar nichts mehr fühle, als fortwährend durch die Hölle zu gehen.
Ich gab Prescott Publishing auf, weil ich glaubte, diesen Preis zahlen zu müssen. Weil ich mir einredete, dass Liam vielleicht noch leben könnte, wenn mir bloß diese Firma nicht so wichtig gewesen wäre. Ich machte mir ganz einfach einen anderen Lebensplan, in dem Liebe oder Leidenschaften, Hoffnungen und Träume ein für alle Mal ausgeschlossen sein sollten. Versteh mich bitte nicht falsch, ich war nicht unglücklich damit. Mein neuer Job brachte mir von Anfang an großen Spaß, und ich habe meine Freiheit sehr genossen. Es funktionierte bis vor etwas über einer Woche, als dieses Mädchen auf meiner Kühlerhaube landete. Sie hat alles verändert. Hat mich verändert. Mit Händen und Füßen wehrte ich mich dagegen, so wie sie es auch getan hat. Gewehrt gegen dieses Gefühl, das in uns wuchs. Aber es gibt nun mal Dinge zwischen Himmel und Erde, die kann man nicht beeinflussen. Wir verliebten uns, und diese Liebe war wie ein Blitz, nein, eher wie ein Donnerschlag, der uns aus einem tiefen Schlaf gerissen hat. Ich sage ganz bewusst ‚wir‘, denn ich habe gespürt, dass es Amy genauso ging wie mir. Es spielt absolut keine Rolle für mich, ob sie zweimal, fünfmal oder noch öfter versucht hat, sich umzubringen. Das ist Vergangenheit, und für mich zählt nur die Zukunft. Und diese möchte ich mit Amelie Johannson in Angriff nehmen, weil ich gar nicht anders kann. Ich bin mir sicher, dass sie mir schon bald die Wahrheit über sich gesagt hätte, doch dieser verdammte Unfall, das Missverständnis, das daraus entstanden ist, hat das verhindert.
Nein, Erin, ich werde Deinen Rat nicht annehmen können. Denn ich liebe diese Frau. Mehr, als ich es mir noch vor wenigen Tagen vorstellen konnte. So sehr, dass es mich um den Verstand bringt. Die Gefühle, die ich für sie hege, hatte ich nie zuvor. Nicht für Anabel oder sonst jemanden. Amy hat mir unlängst gesagt, dass sie versuche, Menschen in die Seele zu blicken. In meine hat sie nicht nur reingeguckt, sie hat sie bis in den letzten Winkel berührt, sie ausgefüllt. Mit allem, was dieses Mädchen ausmacht: mit ihrer zarten Schönheit, ihrem frechen Mundwerk, ihrer unfassbaren Klugheit, doch auch mit dem tiefen Schmerz, den sie wie ein Brandmal unübersehbar vor sich herträgt. Jeder Blinde hätte erkannt, dass sie etwas quält. Natürlich habe ich nicht geahnt, was sich letztendlich dahinter verbirgt, wie tiefgehend ihre Probleme sind. Dass Amy so krank ist, das bedrückt mich, ja, aber es ängstigt mich nicht. Nicht mal ansatzweise. Denn ich weiß, dass alles gut werden kann, wenn ich es nur will. Und ich will es, Erin. Mit der ganzen Kraft meines Herzens, mit der ganzen Kraft der Liebe, die ich für sie empfinde. Ich will es mehr als alles andere auf der Welt, und ich werde dafür sorgen, dass Amy es auch will.
Als Liam mich gebraucht hat, da war ich nicht da. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen. Nicht noch einmal werde ich
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