Die Tiefe einer Seele
wie er sie selten verspürt hatte. Eigentlich noch nie. Zum Glück hatten Erin und die Johannsons ihn für einen Moment allein gelassen und waren auf einen Kaffee unter Deck gegangen. Weil sie wohl spürten, dass er ein wenig Zeit brauchte, um einen klaren Gedanken zu fassen.
Natürlich hatte er geahnt, dass Egidius Johannson eine unbequeme Wahrheit für ihn parat hielt, sonst hätte er kaum auf seinen baldigen Besuch gedrängt. Alles Mögliche hatte James sich daraufhin ausgemalt, nur das, was ihm dann letztendlich zugetragen wurde, das hätte er sich nicht mal in Ansätzen so zusammenreimen können.
Sein Herz zog sich zusammen und sein Kopf schmerzte ihn erbarmungslos, was aber längst nicht mehr nur auf den Unfall zurückzuführen war.
Meine arme Amy! Du bist noch so jung und hast schon so viel durchgemacht. Hab keine Angst, wir finden einen Weg. Irgendwie! Das müssen wir und das werden wir!
Seine Gedanken marterten ihn mit einer bitteren Hartnäckigkeit, doch am Ende zwang er sich, zuversichtlich zu sein. Auch wenn ihm das, was er kurz zuvor in dem Haus der Johannsons erfahren hatte, nicht gerade frohlocken ließ. Er verstand endlich. Das, was Amelie ihm immer wieder durch die Blume hatte sagen wollen. Dass sie nicht gut für ihn sei, weil ihr Leben so vollends aus den Fugen geraten war. Nur wünschte er, sie hätte von Anfang an mit offenen Karten gespielt, dann hätte er ihr diesen Zahn nämlich sofort ziehen können. Denn so schlimm das alles war, er wusste, dass sich dadurch für ihn nichts änderte. Wie auch, er liebte Amy und niemals, solange nur ein bisschen Blut in seine Adern pulsierte, würde er sie aufgeben.
James schrak auf, als ihm ein Becher mit dampfendem Kaffee unter die Nase gehalten wurde. »Damned, ist das kalt hier in Deutschland«, schlotterte Erin und umklammerte mit beiden Händen ihr eigenes Heißgetränk. Ihr Bruder zuckte nur mit den Schultern und zog es vor weiter schweigend auf das Meer hinauszublicken.
»James, hör mal«, begann Erin zögernd und er wusste gleich, was jetzt kam.
»Weißt Du, als Bill mir vor ein paar Tagen erzählte, dass Dir eine Frau begegnet ist, da war das für mich eine riesengroße Freude. Es war so schrecklich zu sehen, wie Du Dich nach dem Tod von Liam immer mehr in einen eisernen Kokon gehüllt hast, der ein Durchdringen nicht zuließ, weder von innen noch von außen. Von Jahr zu Jahr wurde das schlimmer und die Aussicht darauf, dass nun jemand da ist, der es schaffen könnte, zu Dir vorzudringen, die hat mich wirklich glücklich gemacht. Selbst das Wissen um ihren Selbstmordversuch hat mich nicht im Geringsten beunruhigt. Es kann schon mal vorkommen, dass man kurzzeitig die Kontrolle über sein Leben verliert, dass man dann etwas tut, was man möglicherweise so nicht beabsichtigt hat. Deswegen hatte ich die Hoffnung, dass das Mädchen, in das Du Dich verguckt hast, trotz der Probleme, die sie vielleicht hat, ein Segen für Dich sein könnte.« Erin fuhr sich verzweifelt durch die Haare. Man sah ihr an, dass ihr das nicht leicht fiel, was sie jetzt tun musste. »So leid es mir tut, Bruderherz, ich muss meine Meinung revidieren. Denn nach dem, was ich heute gehört habe, ist Amelie eine schwerkranke Frau und Deine Schwierigkeiten sind im Vergleich zu ihren verschwindend gering. Aus diesem Grund muss ich Dir als Deine Schwester, die Dich über alles liebt, aber auch als Ärztin sagen, dass es besser wäre, wenn Du es gut sein lassen würdest. Besser für Dich, doch ebenso für Amelie. Quäl Dich und sie nicht unnötig mit einem Aufeinandertreffen, das im Endeffekt nichts als Kummer und Schmerzen bringen wird. James, sie wollte nicht, dass Du all das erfährst. Sie hat es verheimlicht vor Dir. Was glaubst Du, wie sie reagieren wird, wenn sie feststellen muss, dass ihre Probleme offen auf dem Tisch liegen? Und was ist, wenn sich herausstellt, dass Du mit dieser ganzen Situation eben doch nicht umgehen kannst? Sie wird leiden. Willst Du das wirklich? Bitte, James, tu mir den Gefallen und verzichte auf diesen Besuch. Flieg mit mir zurück in die Staaten, und lass die Dinge ihren Weg gehen.«
James hatte jedes einzelne Wort seiner Schwester aufmerksam registriert. Eigentlich war es ziemlich viel Stoff zum Nachdenken. Aber genauso wie die Möwen da oben im Wind flatterten und sich sicherlich keinerlei Gedanken darüber machten, ob es gleich regnen würde oder nicht, fühlte James sich schlagartig federleicht und beschwingt, völlig befreit von jeglicher
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