Die Tiefe einer Seele
ein umfassendes Verantwortungsbewusstsein und jeden Tag aufs Neue eine weitsichtige Ernsthaftigkeit. Nur so konnte man die Kontrolle behalten.
Drei Jahre hatte James nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums der Kommunikationswissenschaften bei Prescott Publishing gearbeitet und war auf seine große Aufgabe minutiös vorbereitet worden. William B. Prescott hatte seinen designierten Nachfolger alle Bereiche des Unternehmens durchlaufen lassen. Angefangen mit den verschiedenen Ressorts der größten Washingtoner Tageszeitung, die seit Ewigkeiten von PP verlegt wurde, über die Studios von T&R, einem Fernseh- und Radiosender, den James‘ Urgroßvater William B. Prescott II. gegründet hatte, bis hin zum firmeneigenen Buchverlag »Chances«, wo er einige Monate als Lektor gearbeitet hatte. Eine Aufgabe, die ihm unglaublich viel Spaß gemacht hatte. Insgesamt eine anstrengende, aber sehr schöne Zeit.
Danach war sein Platz auf der Chefetage von PP gewesen. In einem riesigen Büro, direkt neben dem ebenso großen seines alten Herrn, wo er von nun an der Kronprinz, die rechte Hand des Seniors sein sollte. Mit Leib und Seele hatte er sich dieser Herausforderung verschrieben gehabt. Hatte, ohne es zu merken, sich selbst Scheuklappen aufgesetzt und nichts anderes mehr gesehen als die Firma. Diese Fokussierung auf seine Arbeit und die daraus resultierende Nichtwahrnehmung seines privaten Umfeldes hatten »es« passieren lassen. Seitdem hatte sich alles verändert. So sehr James seinem Vater auch den Gefallen tun wollte, seine Nachfolge anzutreten, er konnte es einfach nicht. Das war er sich und vor allem Liam schuldig.
James blickte auf den Radiowecker auf der Nachtkonsole neben dem Bett. Was? Schon so spät? Er würde sich beeilen müssen, denn um 21 Uhr hatte er sich im hoteleigenen Restaurant mit Miss Nervensäge verabredet, wie er Amelie insgeheim betitelte. Er freute sich jetzt sogar auf weitere Scharmützel mit der jungen Frau, auch wenn sie voller Rätsel steckte. Aber genau dieser Umstand machte das Ganze so spannend. Hurtig sprang er auf, riss sich das Handtuch von den Hüften und schleuderte es in die Ecke. Nur zehn Minuten später war er fertig angezogen, gestylt und mehr als bereit für den nächsten Schlagabtausch mit Amelie Johannson.
Als James das Restaurant des Hansa-Hofes betrat und leichtfüßig die Tischreihen passierte, bemerkte er, wie die anwesenden Herren verstummten, und die Augen der sie begleitenden Damen sich wie klebriger Honig an ihn hefteten. Ja, James Anthony Prescott war eine sehr einnehmende Gestalt. Das lag nicht ausschließlich an seinem attraktiven Äußeren, obwohl allein dies eine Frau bereits in eine anbetende Verzückung fallen lassen konnte. Hochgewachsen war er, dabei schlank und durchtrainiert. Ebenmäßige Gesichtszüge umrahmt von pechschwarzem, welligem Haar, ein ausgeprägtes Kinn mit einem markanten Grübchen, was sich zumeist aber hinter einem leichten Bartschatten versteckte. Nur wenn er lachte, dann war es unübersehbar, und es konnte Herzen zum Pochen bringen, respektive Eis zum Schmelzen, was er auch sehr wohl wusste. So war ihm dieses Grübchen in der Vergangenheit schon oft nützlich gewesen. Zuletzt, als eine Politesse in München seinen Mietwagen hatte abschleppen lassen wollen, weil er diesen zugegebenermaßen pappfrech im Halteverbot geparkt hatte. Manch anderer hätte seinen ganzen Charme ins Spiel bringen müssen, um die Dame zu erweichen. Nicht so James! Der musste nur einmal sein Grübchen an die Oberfläche zaubern, und die Sache war geritzt.
Aber was auf seine Umwelt, außer seinem guten Aussehen, mindestens ebenso wirkte, war die besondere Aura, die ihn umgab. Er hatte so etwas Wissendes, war zielstrebig und schien völlig in sich zu ruhen. So war es an diesem Abend sicherlich nicht das erste Mal, dass Blicke ihn verfolgten, doch James gab nichts darauf. Es spielte keine Rolle für ihn.
Suchend sah er um und entdeckte sie auch prompt. Kein Wunder, denn ihr rote und jetzt trockene Mähne leuchtete wie eine Warnboje im Meer der anderen Gäste. Schnellen Fußes schritt er zu dem kleinen Tisch, an dem sie saß, und ließ sich schnaufend daran nieder.
»Sorry, ich bin zu spät. Hatte mich etwas hingelegt und dabei völlig die Zeit vergessen.«
Amelie rümpfte missbilligend die Nase. »Mann, hören Sie endlich auf, sich zu entschuldigen! Es ist zwei Minuten nach neun, also kann man hier nicht wirklich von einer Verspätung sprechen.«
James machte
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