Die Tiefe einer Seele
lebte und das war alles, was zählte. Vorläufig jedenfalls.
Wie ferngesteuert hob er seine linke Hand und streichelte ihr vorsichtig übers Haar, das genauso kraftvoll wie immer leuchtete und keinerlei Hinweis auf die Misere seiner Besitzerin gab. Seine Amelie. Sein kleines Mädchen. Sein Blick fuhr weiter nach unten und blieb an dem hässlichen Striemen hängen, der seine Tochter auf scheußlichste Art und Weise brandmarkte. Dort wo sich das Kabel unbarmherzig in die zarte, weiße Haut des Halses eingeschnitten hatte. Ein schrecklicher Gedanke, der dem Mann wie auf Kommando die Luft abschnürte. Als wenn sich dieses verdammte Kabel nun um seinen Hals legen würde. Er konnte es fast körperlich spüren. Ein jämmerliches Glucksen entwich seiner Kehle und verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht. Nur Sekunden später fühlte er die Nähe seiner Frau, die ihn in ihre Arme schloss, die gemeinsam mit ihm den Kampf aufgab und genauso wie er einfach nur weinte. Unzählige bittere Tränen des Nichtverstehens und des Nichtweiterwissens. Als sie nach einiger Zeit zur Ruhe kamen, traten sie Seite an Seite wieder an das Bett. Sie nahmen die kalte, blasse Hand ihres Kindes zwischen ihre und versuchten so, ihre ganze Liebe und Wärme auf das Mädchen zu übertragen. Darauf konzentrierten sie sich mit aller Macht, so dass sie am Ende nur noch sich und Amelie sahen und nicht mal mehr das stetige, eintönige Piepen der Überwachungsgeräte wahrnahmen. Ebenso wenig bemerkten sie den Mann im weißen Kittel, der leise das Zimmer betreten hatte und sachte die Schulter des Pastors berührte.
»Gide, Entschuldigung, dass ich stören muss«, sagte er ruhig. Aber draußen ist jemand, der mit Euch sprechen möchte.«
Egidius Johannson blickte mit ausgebrannter Miene in das Gesicht seines Freundes, Dr. Hartmut Carstens, den er seit Kindertagen kannte, und den er ganz bestimmt niemals hatte in so einer Situation antreffen wollen. »Uns sprechen?« wiederholte er mit brüchiger Stimme. »Aber wer….?« Er verstummte. Der Arzt sah ihn voll Bedauern an.
»Es tut mir leid, Gide, aber bei Suizidversuchen sind wir verpflichtet, die Polizei zu informieren. Ganz einfach, um ein Fremdverschulden auszuschließen. Es sind gerade zwei Kriminalbeamte aus Aurich eingetroffen, die Euch befragen wollen. Der Schulleiter der Theodor-Storm-Schule, Herr Brockmann, ist ebenfalls hier und wartet mit ihnen auf dem Flur. Ich wünschte, ich könnte Euch das ersparen, doch wie gesagt, die Vorschriften zwingen uns dazu.«
Pastor Johannson atmete tief durch, nickte dann aber leicht mit dem Kopf. »Ja, kein Problem. Ist es in Ordnung, wenn Magda bei Amelie bleibt? Wir würden sie ungern alleine lassen.«
»Aber sicher doch, mein Freund«, antwortete Dr. Carstens und geleitete Egidius Johannson auf den Flur der Intensivstation, wo die drei wartenden Herren ihnen entgegenblickten. Der Pastor nahm die Hand des völlig schockiert wirkenden Schulleiters der Theodor-Storm-Schule entgegen und drückte sie leicht. Ebenso begrüßte er die beiden Beamten, dessen Namen er jedoch sofort wieder vergaß.
»Herr Johannson«, begann der eine Polizist mit hörbarer Anteilnahme, die er vielleicht auf irgendeiner Polizeischule antrainiert bekommen hatte, die möglicherweise aber auch in diesem Fall ehrlich und aufrichtig war, wer wusste das schon. »Es tut uns wirklich leid, dass wir Sie in dieser schrecklichen Situation behelligen müssen, doch wir wurden von der Schule und dem Krankenhaus informiert und sind daher verpflichtet, der Sache nachzugehen.«
Egidius runzelte mit der Stirn und verspürte einen Anflug von Wut in seinem Bauch. »Der Sache nachgehen?« wiederholte er sichtlich aufgebracht. »Die Sache heißt Amelie, ist meine 14-jährige Tochter und kämpft da drinnen um ihr Leben. Sie mag so manches sein, aber eines ist sie ganz sicher nicht: eine Sache!«
Der Beamte erblasste und nickte verlegen. »So war das auch gar nicht gemeint, Herr Pastor Johannson. Alles, was ich sagen wollte ist, dass wir hier sind, um unsere Pflicht zu erfüllen. Bitte verzeihen Sie, dass ich mich etwas unüberlegt ausgedrückt habe. Herr Brockmann hat uns bereits mitgeteilt, dass Ihre Tochter nach der zweiten großen Pause auf der Mädchen-Toilette der Schule aufgefunden wurde. Sie hat dort versucht, sich mit einem Elektro-Kabel an einem Heizkörper zu erhängen. Was zum Glück nicht gelang, weil die Schlinge sich nicht zur Gänze zugezogen hatte, wodurch ein Genickbruch und somit der
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