Die Tiefe einer Seele
ein langes Gesicht. »Was haben Sie, verdammt noch mal, dagegen, wenn man höflich ist, können Sie mir das mal verraten?«
Die junge Frau grinste. »Gar nichts, aber fluchen zeugt so gar nicht von der Höflichkeit, die Ihnen doch scheinbar so wichtig ist, Mr. Prescott.«
James grinste nun ebenfalls. »Tja, nachdem das Erste, was ich aus Ihrem Mund vernahm, junges Fräulein, auch ein Fluch war, scheinen wir zwei ja gut zusammenzupassen. Und nennen Sie mich bitte James, sonst komme ich mir so alt vor.«
Da war es wieder, dieses Funkeln in den grünen Augen seiner neuen Bekanntschaft. Sah so aus, als wenn er sich gleich erneut einen Spruch einfangen würde, womit er recht behalten sollte. »Ich will Ihnen ja nicht Ihre Illusionen nehmen, Mr. Prescott, aber ich fürchte, Sie sind in der Tat nicht mehr ganz taufrisch. Stimmt`s?«
»Und Sie sind ganz schön mutig, Amelie Johannson«, nahm er den Spielball auf. »Dann muss ich ja jetzt wohl Farbe bekennen. Ich feiere im September meinen 35. Geburtstag und habe damit unzweifelhaft ein biblisches Alter erreicht. Daher wäre ich Ihnen unsagbar dankbar, wenn Sie mir gleich den Haferschleim reichen könnten und anschließend dafür sorgen, dass ich unfallfrei in mein Zimmer gelange.«
Amelie lachte herzhaft auf, was James die Gelegenheit gab, sie ein wenig näher zu mustern. Nichts erinnerte mehr an die nasse Katze, die zwei Stunden zuvor seinen Weg im wahrsten Sinne des Wortes gekreuzt hatte. Im trockenen Zustand erkannte man sofort, dass sie trotz der zierlichen Gestalt kein Kind mehr war, sondern eine hübsche, junge Frau, etwa Mitte 20, so schätzte er. Ins Auge fielen besonders ihre Haare. James fragte sich, ob es sich um die Naturfarbe handelte, denn es war schon ein sehr intensives Rot. Er würde sich bei Gelegenheit danach erkundigen. Ihr Teint hatte etwas Gläsernes, sie wirkte insgesamt ein wenig zerbrechlich. Ein Umstand, der vermutlich in jedem Mann einen Beschützerinstinkt geweckt hätte. Widersprüchlich dazu war ihr Auftreten, zumindest in der überwiegenden Zeit, in der er sie kannte. Das hatte nichts Zerbrechliches an sich, eher etwas Kämpferisches. Seine Augen schweiften weiter über ihre Figur, die recht passabel zu sein schien. Im Sitzen ließ sich das allerdings schwer beurteilen, außerdem steckte sie in einem unförmigen Rollkragenpullover, was James stirnrunzelnd wahrnahm.
»Was ist?«, unterbrach Amelie seine Gedanken, die ausgelacht und seinen Blick bemerkt hatte.
»Ich frage mich, ob Sie nicht vor Hitze eingehen in diesem dicken Pullover.«
Kurz zögerte sie. »Nein, ganz sicher nicht. Wie Sie sich erinnern, war ich bis eben, dank Ihnen, nass bis auf die Haut. Mir war halt kalt. Und jetzt habe ich Hunger. Lassen Sie uns bestellen!«
James nickte und winkte dem Kellner zu.
Die nächste Stunde verbrachten die beiden bei leckerer Pasta und einem milden Rotwein in einer lockeren Stimmung. Sie unterhielten sich blendend. James erfuhr, dass Amelie von der ostfriesischen Insel Spiekeroog stammte, und dass ihre große Leidenschaft das Studium der Geschichte war. Nicht nur, weil sie zukünftig auf diesem Gebiet beruflich tätig sein wollte, sondern begründet dadurch, dass sie es unglaublich spannend fand, in die Vergangenheit einzutauchen, mehr zu erfahren über das Leben früherer Zeiten. Auf ihre Vorliebe für klassische Musik, weil sie dem modernen Geklimpere, so der O-Ton der Miss Johannson, nicht viel abgewinnen konnte, reagierte James mit Erstaunen und einem Hauch Humor.
Im Gegenzug erzählte er ihr von seiner Arbeit als Reisejournalist. Gerade wollte er ihr berichten, was genau er in Deutschland machte, da kam der Kellner und brachte die beiden georderten Getränke, einen Kaffee für James und einen Tee für Amelie. Und plötzlich ging alles sehr schnell. Ein kleiner Junge, der durch das Restaurant tobte, rammte ihn. Das Geschirr auf dessen Tablett begann, verdächtig zu rutschen. James sprang auf, um Schlimmeres zu verhindern, aber es war zu spät. Das Tablett kippte und der heiße Inhalt beider Tassen ergoss sich über Amelies linken Unterarm. Sie schrie überrascht und voller Schmerzen auf. Reflexartig riss sie den Ärmel ihres Pullovers hoch und rieb sich für einen Moment die gepeinigte Haut darunter, dann aber verharrte sie verschreckt. So, als wenn ihr plötzlich etwas eingefallen wäre. Hastig schob sie den Ärmel wieder runter. Doch es war zu spät. James hatte es gesehen. Sie schaute ihn ängstlich an, und sein schockierter Blick
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