Die Tiefe einer Seele
er heißt Igor, kommt aus Moskau, wohnt aber schon seit zehn Jahren in LA und ist schrecklich gutaussehend. Er ist es, glaube mir. Der Mann, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe. Dad wird wahrscheinlich der Schlag treffen, dass es ausgerechnet ein Russe sein muss, doch was soll ich machen, es hat mich voll erwischt, kein Wunder, dieser Knabe ist umwerfend. Er ist auch Designer. Hat zwar andere Vorstellungen als ich, aber ich fühle, dass ich mit ihm zusammen endlich den Durchbruch schaffen könnte. Vielleicht sollten wir es mal mit etwas Klassischem versuchen? Eine Kollektion im Stil der 1920er Jahre? Was meinst Du?«
James stellte seine Ohren auf Durchzug. Wenn ihn eins noch mehr langweilte, als Bills dauernd wechselnden Bekanntschaften, denn sein Bruder verliebte sich ständig neu und jedes Mal unwiderruflich, dann waren das seine unendlichen Monologe über seine Arbeit als Designer. Ein Beruf, in dem er vollständig aufging.
Ha, schon wieder so ein Klischee!
War eigentlich jeder Modemacher schwul oder war es vielmehr so, dass jeder Schwule davon träumte, eines Tages ein großer Designer zu werden? So ganz bekam James das nicht auf den Schirm. Aber er wollte sich auch nicht näher mit diesem Thema befassen. Da dachte er doch lieber wieder an Amelie. Während sein Bruder weiter irgendetwas von Pailletten und Seidenstoffen laberte, kam ihm zum wiederholten Male dieser schmerzvolle Ausdruck auf dem Gesicht der jungen Frau in den Sinn. Er hätte sich immer noch ohrfeigen können für das, was er so gedankenlos daher gesagt hatte. Sie hatte es ihm nicht übel genommen. Im Gegenteil, diesmal hatte sie sich sogar noch schneller wieder gefangen und hatte die peinliche Situation mit einem ihrer etwas skurrilen Scherze und einem Lächeln zu überspielen versucht. Doch bei James war ein bitterer Nachgeschmack geblieben. Er wollte verflixt noch mal wissen, was in ihrem Kopf vorging. Früher oder später würde er sie nicht mehr damit hinlassen. Damit, dass sie davonlief. Vor ihm und seinen Fragen, aber in erster Linie vor sich selbst. Denn das war für ihn eindeutig. Amelie Johannson war auf der Flucht.
»Ich habe auch jemanden kennengelernt!« Ohne es zu wollen, hatte James die Worte laut ausgesprochen.
Augenblicklich verstummte sein Bruder und eine peinliche Stille entstand.
»Du hast bitte was?«, fragte Bill dann doch nach, seine Überraschung nicht mal im Ansatz verbergen könnend.
»Äääh, also ja, ….ich habe ein Mädchen kennengelernt, eine junge Frau, …aber es ist nicht das, was Du denkst!«, stotterte James und ihm stieg tatsächlich das Blut ins Gesicht, was Bill zum Glück nicht sehen konnte.
»Wie meinst Du das, es ist nicht das, was ich denke? Was zum Teufel ist es dann? Du hast mir seit Ewigkeiten von keinem Mädchen mehr erzählt. Seit sieben Jahren, um genau zu sein. Willst Du mich für dumm verkaufen?«
»Hör schon auf Bill! Als Frau interessiert sie mich wirklich nicht. Sie ist hübsch ja, aber so gar nicht mein Typ.«
»Was willst Du dann von ihr?«
»Nun ja, …sie ist…irgendwie besonders.«
»Besonders? Ey Alter, merkst Du noch was? Du fährst auf sie ab!«
»Nein, tue ich nicht. Das wäre wahrscheinlich auch das Letzte, was sie momentan braucht.«
»Warum? Ist sie krank oder so was?«
»Mmm, könnte man so sagen, …sie…sie hat versucht, sich umzubringen.«
»Was? Etwa wegen Dir?«
»Hörst Du mir überhaupt zu, Bill Prescott? Natürlich nicht wegen mir. Ich habe sie gerade erst kennengelernt.«
»Und dann hat sie Dir gleich gesteckt, dass sie Selbstmord begehen wollte?«
»Nein, ich habe durch Zufall die Narben gesehen an ihrem Handgelenk.«
»Und? Habt Ihr darüber gesprochen?«
»Nein! Sie blockt ab. Es scheint ihr peinlich zu sein.«
James hörte, dass sein Bruder tief durchatmete.
»Peinlich, ja? Lässt sich denken. Vielleicht ist es aber auch etwas anderes. Hör zu James, es liegt mir fern, Dir irgendwelche Vorschriften zu machen, aber es wäre besser, Du lässt die Finger von diesem Mädchen. Auch wenn Du sagst, dass Du nichts von ihr willst, so scheint sie Dich doch sehr zu beschäftigen. Mehr, als gut für Dich wäre. Ich möchte nicht, dass Du da Ende in etwas mit hineingezogen wirst, was Dir selbst den Rest gibt.«
»Was redest Du denn da? Mache ich den Eindruck, psychisch instabil zu sein?«
»Du kannst Dir das schönreden bis in alle Ewigkeit, liebstes Bruderherz. Wir wissen, dass es Dir nicht gut geht, und darum solltest Du auf Dich Acht geben.
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