Die Time Catcher
hoffe, dass ich das Wort richtig ausgesprochen habe.
Sie winkt mich zu einer Bank hinüber, und gemeinsam beobachten wir die Passanten, die an uns vorübergehen. Ich bin mir der Tatsache sehr bewusst, dass sie neben mir sitzt. Die Nähe ihres Körpers nimmt mich in diesem Augenblick sogar mehr gefangen als alles andere auf der Welt. Als sie die Sitzhaltung ändert, spüre ich, wie sich unsere Beine berühren. Was geschieht hier gerade? Auf dieser Bank ist locker für vier Leute Platz, warum rückt sie mir dann so auf die Pelle? Auf die Pelle rücken ist natürlich der falsche Ausdruck. Es fühlt sich ganz anders an. Seit unserer Mission in Frankreich habe ich mir den Kopf über dieses neue und seltsame Gefühl zerbrochen. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefällt. Doch möchte ich unter keinen Umständen, dass sie ihr Bein wieder wegzieht.
»I st das nicht ein herrlicher Trubel hier?«, fragt sie und rückt noch näher an mich heran.
»D och, wirklich ein … toller Trubel«, bestätige ich und rutsche unruhig hin und her.
Eine ältere Dame kommt vorbei und bedenkt mich mit einem missbilligenden Blick.
»A chte nicht auf sie«, sagt Abbie. »I ch finde, im Nachthemd siehst du echt süß aus.«
»D as ist kein Nachthemd«, entgegne ich. »N assim hat das …«
»D u brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Cale. Außerdem bin ich echt gerührt, dass du vergessen hast, dich umzuziehen, weil du mich so schnell treffen wolltest. Apropos, wie geht’s dir eigentlich? Da warst gestern ja ziemlich früh verschwunden. Lag es am Essen?«
»M ir geht’s gut«, lüge ich. Meine gute Laune ist verflogen und zurück bleibt nichts als Verärgerung und Verwirrung. Ich ärgere mich darüber, dass jemand, der mich so gut kennt wie sie, nicht versteht, dass ich gestern nur deshalb so früh den Raum verlassen habe, weil sie mich völlig ignoriert und Mario schöne Augen gemacht hat. Und es verwirrt mich, dass ich nicht weiß, wie ich mit diesen neuartigen Gefühlen Abbie gegenüber umgehen soll. Soll ich ihr davon erzählen? Ich muss unbedingt wissen, was sie für mich empfindet, aber sie direkt danach zu fragen, ist unmöglich. Vielleicht würde sie gar nicht verstehen, was ich meine. Oder sie würde mir antworten, dass ich für sie wie ein Bruder bin. Dann wäre ich wirklich am Boden zerstört. Vielleicht sollte ich einen Brief an Fragen Sie Natascha schreiben. Die Überschrift könnte lauten: »V erwirrt in New Beijing.« Oder ich könnte von hier aus eine Mail schicken und mit »J emand, der in London seine Liebe sucht« unterschreiben.
»F reut mich, dass es dir besser geht«, entgegnet sie und steht auf. Ich spüre einen Anflug von Enttäuschung, weil unsere Beine sich nicht mehr berühren. »A lso los. Der Regenschirm-Laden wartet.«
»H ast du Laden gesagt? Ich dachte, wir besuchen eine Fabrik, in der Schirme hergestellt werden.«
»H ättest ja mal einen Blick in deine Unterlagen werfen können, Mr Nachthemd«, sagt sie und zeigt quer über die Straße. »D er Schirm, auf den wir es abgesehen haben, wurde in keiner Fabrik hergestellt, sondern in dem Geschäft da drüben von Hand gefertigt.«
»I ch verstehe einfach nicht, dass wir wegen eines blöden Regenschirms diesen weiten Weg auf uns genommen haben. Bei uns gibt es doch jede Menge Schirmgeschäfte.« Ich höre den quengeligen Ton in meiner Stimme, aber ich kann nichts dagegen tun, ich hab nun mal schlechte Laune.
»S timmt, aber nirgends kann man den Regenschirm kaufen, den der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill 1941, also während des Zweiten Weltkriegs, zur Harrow School mitgenommen hat, wo er eine der berühmtesten Reden der Weltgeschichte hielt«, entgegnet Abbie. »D u weißt schon … Niemals aufgeben. Nie!«
»A ußerdem frage ich mich, warum er überhaupt einen Schirm mitgenommen hat«, fahre ich fort, »i ch meine, er musste ja wohl nicht lange zu Fuß gehen, er hatte ja einen Chauffeur. Und davon abgesehen, wie kommt sein Schirm eigentlich in diesen Laden in Kensington, siebzig Jahre später?«
Mehrere Kinder kommen aus dem Käseladen gelaufen und schubsen einander herum. Ihr Lachen gellt mir in den Ohren.
Abbies Augen verengen sich in einer Mischung aus Besorgnis und Verärgerung. »I ch weiß nicht, wie er hierhergekommen ist, aber ist das so wichtig? Warum bist du eigentlich so schlecht gelaunt?«
Schön, dass du das endlich merkst, liegt mir auf der Zunge, doch stattdessen sitze ich stumm da und brüte vor mich hin.
»G
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