Die Time Catcher
Hände voll zu tun, den kläffenden Köter irgendwie abzuschütteln.
Schließlich gelingt es mir, mich loszureißen und die Straße zu überqueren. Der Riesenbildschirm am Dach des Gebäudes Franklin Street 181 zeigt das Ergebnis des Baseballspiels von gestern Abend. Boston Red Sox – Beijing Blue Dragons: 8 : 1. Ich verstehe gar nicht, warum sie sich überhaupt die Mühe machen, das Ergebnis bekannt zu geben: Niemand hier interessiert sich auf nur die Spur für die Blue Dragons. Fragt man hundert New Yorker, was ihnen an der Großen Freundschaft am wenigsten gefällt, sagen alle dasselbe: dass die Yankees durch ein Baseballteam aus Beijing ersetzt wurden. Niemand hätte protestiert, wenn man das mit den unbeliebten Knicks getan hätte, aber die Yankees? Das ist, als würde man den Fans das Herz herausreißen.
Für einen Moment bleibe ich vor dem Hauptquartier stehen. Es ist einer dieser perfekten New Yorker Tage: eine sanfte Brise, warm, aber nicht zu warm, und ein leuchtend blauer Himmel. Ich hole tief Luft und sauge sie in meine Lungen. Es ist schon erstaunlich, wie wetterabhängig meine Laune oft ist.
Dann öffnet sich die Eingangstür und Mario kommt heraus. Das war’s mit dem perfekten Tag.
»H ey, Caleb, wie geht’s?«
Als er mir auf den Stufen entgegenkommt, studiere ich sein Grinsen. Wenn man mit jemandem zusammenlebt, dann kennt man die Mimik des anderen irgendwann in- und auswendig. Und auch auf zehn Schritte Entfernung sehe ich genau, dass es sich nicht um sein übliches Ich-bin-besser-als-du-Grinsen handelt. Etwas Neues ist hinzugekommen. Das leichte Heben der einen Braue. Die ein wenig gehobenen Mundwinkel.
»H übsches Kleid«, sagt Mario. »H ast du dich nach einer passenden Handtasche umgesehen?«
Es liegt mehr als die übliche Provokation in seinem Kichern. Und mir geht plötzlich ein Licht auf.
»D as warst du!«, sage ich. »D u hast meine Kleider für den Londonaufenthalt ausgetauscht.«
»W ie kommst du denn darauf?«, fragt er, und ich höre seiner Stimme sofort an, dass ich richtig vermutet habe.
»W eil mir kein anderer Schwachkopf einfällt, der sich mit solchen dämlichen Spielchen vergnügen würde«, entgegne ich.
»S elber Schwachkopf«, zischt er.
Ich will an ihm vorbeigehen.
»H ey, nicht so schnell.« Mario versperrt mir den Weg und legt mir die Hand auf die Schulter. Ich schiebe sie weg.
»L ass mich, ich habe es eilig.«
»S ei doch nicht so aggressiv. Vor allem nicht, wo ich dir gerade einen Gefallen tun will.«
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Mario mir schon je einen Gefallen getan hätte. Doch ich sage mit einem falschen Lächeln: »S timmt, ich sollte ein bisschen freundlicher sein. Äh, also, die Ente gestern … die hat echt … nach Ente geschmeckt.«
»D anke, Caleb. Ich hab wirklich viele Komplimente dafür gekriegt. Besonders von Abbie. Ich treff sie übrigens gleich. Vermutlich hat sie dich deshalb gerade in London abgehängt.«
Wie gut, dass er nicht hört, wie ich hinter meinen zusammengepressten Lippen mit den Zähnen knirsche.
»A ber ich wollte dir ja einen Gefallen tun«, fährt Mario fort, »a lso sei gewarnt, dass Onkel dich sucht. Er will sofort mit dir reden.«
Das sind schlechte Nachrichten. Doch darf ich Mario nicht spüren lassen, dass es ihm gelungen ist, mir gründlich die Laune zu verderben.
»J a, ich weiß«, sage ich so beiläufig wie möglich. »E r will in einer bestimmten Sache meine Meinung hören.«
Volltreffer! Marios Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig.
»I n was für einer Sache?«, fragt er misstrauisch.
»D arüber darf ich nicht reden«, antworte ich. »B is später.«
Ich gehe um ihn herum und springe die Stufen hinauf. Und wer weiß? Vielleicht habe ich ja recht. Vielleicht will Onkel wirklich meine Meinung in einer Frage von nationalem Interesse einholen, zum Beispiel in welcher Farbe das Regal im Aufenthaltsraum gestrichen werden soll. Aber im Grunde bezweifle ich es. Das wäre nicht seine Art. Wenn Onkel mich unter vier Augen sprechen will, dann kann es dafür nur einen Grund geben – er wird mich für etwas zusammenstauchen, was ich seiner Meinung nach falsch gemacht habe.
»B itte in den Dritten, Phoebe«, sage ich, als sich die Türen des Aufzugs schließen.
»I mmer mit der Ruhe«, antwortet sie. »H ast du überhaupt schon gesehen, was ich heute anhabe?«
Seufzend drehe ich mich zum Wandbildschirm um. Phoebe trägt einen hautengen leuchtend grünen Sportanzug und auf dem Kopf einen
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