Die Time Catcher
und gemeinsam setzen wir unseren Weg fort. Da ist es wieder, dieses sonderbar kribblige Gefühl von vorhin. Abbie hingegen scheint sich in ihrer Haut vollkommen wohl zu fühlen. Hat sie meinen Arm genommen, weil es zu unserer Scharade gehört? Ihr wisst schon, die loyale Dienerin, die ihren Monarchen zu seinem nächsten Programmpunkt geleitet. Oder tut sie das, weil sie mich mag? Ich meine, weil sie mich wirklich mag.
Ein kurzer Blick auf meinen Fingernagel sagt mir, dass unser Catch dreieinhalb Minuten vor Ende der Frist gelungen ist. Es bleibt also genügend Zeit, um sich in aller Ruhe einen geeigneten Ort für unsere Rückreise zum Hauptquartier auszusuchen.
Weil mich die Sonne blendet, strecke ich den Schirm in die Luft, allerdings mit dem falschen Ende nach oben.
»N ati?«, erkundige ich mich, worauf wir beide in schallendes Gelächter ausbrechen.
Es ist ein herrliches Gefühl, mit Abbie die Straße entlangzuschlendern und gemeinsam zu lachen. Nur wir beide. Am liebsten würde ich diesen Moment für immer festhalten.
»W ie hast du das mit dem Telefon gemacht?«, frage ich sie.
Sie drückt meinen Arm und zieht etwas aus ihrer Hosentasche. Es ist eine kleine blaue Erdkugel von der Größe eines Tischtennisballs. »D ie ist ziemlich neu. Onkel hat sie erst diese Woche bekommen. Damit kann ich im Umkreis von fünfzehn Metern so einiges in Gang setzen.«
»S ehr beeindruckend«, sage ich.
Sie lässt den Gegenstand wieder in ihrer Tasche verschwinden, steckt die andere Hand in die Innentasche ihres Blazers und zieht einen kleinen gelben Regenschirm heraus. Wie clever. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihn gestohlen hat.
»W arum zwei Schirme?«, frage ich. »W ir sollten doch nur einen besorgen.«
»Z wei sind immer besser als einer, Caleb aus Cincinnati«, antwortet sie. »U nd wer weiß, vielleicht regnet es ja auf unserer nächsten Mission.«
»W o führt uns die hin?«, frage ich. Es ist bequemer, Abbie zu fragen, als selbst auf die Planungsliste für die nächsten Missionen zu schauen.
»W eiß nicht«, antwortet sie. »I st unter WNBG gelistet.«
Wird noch bekannt gegeben. Bis jetzt hat Onkel weder Nassim noch Phoebe irgendwelche Details dazu verraten. Was daran liegen könnte, dass er noch nicht dazu gekommen ist. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass diese Mission ganz besondere Umstände bereithält, die er uns persönlich erklären möchte.
Ich will gerade etwas erwidern, als ich sie sehe. Eine fünfköpfige Familie, die uns entgegenkommt.
Die Eltern halten sich an der Hand und lächeln. Direkt hinter ihnen laufen ihre drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge.
Das ältere Mädchen scheint in meinem Alter zu sein. Ich schätze ihre Schwester auf zwölf und ihren Bruder auf ungefähr fünf Jahre. Er hat dieselben unscheinbaren braunen Haare wie ich. Die Mädchen halten ihn an den Händen und spielen Engelchen-Flieg mit ihm. Der Junge strahlt vor Glück.
Ich bleibe stehen und lasse sie an mir vorübergehen. Tiefe Gefühle werden in mir aufgewühlt. Gefühle, die ich nicht richtig verstehe. Ich schiebe sie von mir. Schlage sie mir aus dem Kopf.
»W as ist, Cale? Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Abbie besorgt.
»K lar«, antworte ich. »A lles okay.« Doch ich weiß, dass das nicht stimmt.
»L ass mich den Check-in mit Nassim machen«, sagt sie und nimmt mir den Frederick Blackman aus der Hand. »D u solltest dich ein bisschen ausruhen. Und vielleicht unter die Dusche gehen.«
Abbie verschwindet in einer engen Gasse. Ich gehe ihr nach, doch sie ist bereits verschwunden. Auf mein Handgelenk tippend, lasse ich London hinter mir.
23. Juni 2061, 9:33 Uhr
Franklin Street, Tribeca
New Beijing (früher New York City)
I ch lande nahe der Eingangstür des Mietshauses, das sich gegenüber dem Hauptquartier befindet. Eine groß gewachsene Frau mit Bürstenhaarschnitt zuckt genauso zusammen wie ihr Chihuahua, weil ich aus dem Nichts direkt neben ihnen auftauche. Der Aufschrei der Frau und das wilde Bellen des Hundes gellen mir in den Ohren. Normalerweise bevorzuge ich ruhige, abgeschiedene Orte, an denen ich keinerlei Aufmerksamkeit errege, aber was soll ich machen. Das ist eben New York, ich meine, New Beijing.
Sobald die Zeitstarre nachlässt, trete ich einen Schritt zurück und murmele eine Entschuldigung. Aber der kleine Hund ist von der nachtragenden Sorte. Er schnappt nach meinem Fußgelenk, weil er nicht höher springen kann, und für die nächsten anderthalb Minuten habe ich alle
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